Die Heilerin von Lübeck
Hölle. Seine Mutter weiß, dass er für sie die Zeichen ihrer Sünde, die Gott verflucht hat, auf sich genommen hat. Ohne ihren Krüppel von Sohn würden sie beide verhungern.« Der Mönch hielt Taleke die geballte Faust unter die Nase.
Die Handwerker, die mitgehört hatten, zuckten die Schultern und wandten sich ab. Verstört sah Taleke der Prozession nach, die unter dem andächtigen Gebet der Frommen vom Kohlmarkt zog, dem Dom entgegen. Im Domviertel würden sie den Beifall und die Almosen der vor allem dort wohnenden Binnenschiffer einfordern und sich in den nächsten Tagen gemächlich auf den Weg nach Süden machen. Alle wären es zufrieden.
Nur der unglückliche Junge nicht, in dessen Gesicht sie geblickt hatte. Er hasste sein Schicksal.
Kapitel 20
Taleke verfasste einen kurzen Brief an Nicolaus. Möglicherweise war er wütend auf sie, dass sie fort war, vielleicht aber auch nur besorgt um sich selber. Jedenfalls hatte er ein Recht darauf zu wissen, dass sie in Sicherheit war. Auch wenn jetzt die Tage kühler wurden und die Nacht früher hereinbrach, würde ihn das Schreiben noch vor dem Winter erreichen.
Sie hatte einen guten Einfall gehabt, wie sie den Brief nach Paris befördern lassen konnte: mit Hilfe von Elske, der Witwe des Knechtes Heinrich. Die Schwierigkeit bestand hauptsächlich darin, ohne Zeugen mit ihr zu sprechen.
Die Kaufmannsfamilie Puttfarcken besaß ein Eckhaus an den Schüsselbuden, so viel hatte Taleke schon in Erfahrung gebracht. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich vor dem Haus auf die Lauer zu legen und zu warten, in der Hoffnung, dass Elske auf den Markt geschickt wurde.
Als Erster kam ein breitschultriger Knecht mit einem Pferd auf die Gasse. Taleke huschte zu dem Bären von Mann hinüber, strich dem neugierigen Pferd über die Nüstern und fragte beiläufig nach Elske.
»Das ist ja wohl dreist, einem fremden Hengst an edle Teile zu fassen«, polterte der Mann und grinste zweideutig.
»Er mag es. Siehst du das nicht?«, widersprach Taleke, die dem sich mit gespreizten Beinen hin und her wiegenden Knecht genau ansah, dass er eigentlich frivolere Körperteile meinte. »Er erinnert mich an meine Stute. Sie könnte eine Tochter von ihm sein. Wird er zur Zucht benutzt?«
Der Kerl sperrte den Mund auf, was seinen groben Gesichtszügen einen dümmlichen Ausdruck verlieh. Bedächtig nahm er eine etwas angemessenere Haltung ein. Er wusste offensichtlich nicht, wie er Taleke einordnen sollte, aber den Flegel wagte er nicht mehr herauszukehren.
Sie sah jedoch den Zweifel in seinen hellbraunen Augen, während er viel zu oft zwinkerte. »Nun, wie dem auch sei«, fuhr Taleke fort, »ich muss mit Elske sprechen. Wo kann ich sie finden?«
»Ähh«, ächzte der Knecht, immer noch unschlüssig. »Hat sie was ausgefressen?« Angesichts Talekes frostiger werdender Miene entschied er sich für Unterwürfigkeit. »Sie muss gleich aus dem Haus kommen, Frau … Frau. Sie geht jeden Tag um diese Zeit auf den Markt.«
»Prächtig«, stellte Taleke fest und trat einen Schritt zurück. »Und wer bist du?«
»Eler, der Stallknecht.«
»Danke. Du kannst gehen, Eler.«
Elske, die kurze Zeit später auf die Gasse trat, war misstrauisch und würde sich nicht so schnell ins Bockshorn jagen lassen, wie Taleke schnell erkannte. »Was wollt Ihr von mir?«, fragte sie mit verkniffener Miene.
»Ich bin keine Dame aus der Kaufmannschaft, falls du das glaubst. Ich bin Taleke, die Heilerin aus der Kleinen Altefähre«, antwortete sie mit scharfem Blick für jemanden, dem das Leben von Geburt an übel mitgespielt hatte. »Ich hoffe, du kannst mir helfen, Elske.«
»Mir hilft auch niemand«, erklärte Elske abweisend. Ihr Gesicht war voller Runzeln und ihr Rücken gebeugt, als habe sie ständig zu viel Holz oder andere schwere Lasten schleppen müssen.
»Ich habe deinen Heinrich gekannt, Elske, und ich vermute, unser aller Herr hatte etwas an ihm gutzumachen. Jedenfalls haben wir, dein Ehemann und ich, seine letzte Mahlzeit vor dem Tod geteilt: gutes Hopfenbier und Pastete aus Krammetsvögeln.«
Elske starrte Taleke aus übergroßen Augen an. »Ist er satt geworden?«, flüsterte sie ergriffen.
»Wir konnten zum Schluss nicht mehr«, bestätigte Taleke. »Dann hat er von dir gesprochen.«
Elske faltete die Hände wie zum Gebet. »Ich danke dem Herrn für diese Gnade. Gottlob hat Heinrich nicht mehr erlebt, was danach geschehen ist.«
»Und was ist denn geschehen?«
»Die Herrin hat mich aus
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