Die Heilerin von Lübeck
nicht zustande. Wittenborch ging, und sie sah ihm verzweifelt nach. Mitten in ihrem Kummer fiel ihr ein, dass sie nun nach Nicolaus’ Rückkehr nach Lübeck keinesfalls ihre Mutter zu sich holen konnte. Wieder einmal war ihr Leben so unsicher geworden, dass sie nicht wusste, was der nächste Tag bringen würde. Es war ein bitteres Gefühl.
Am nächsten Tag schwante Taleke ein weiteres Unglück, als der atemlose Binnenschiffer Tidemann sie zu Nese holte. Er war außer sich vor Besorgnis, stammelte etwas von neuer Krätze oder doch Aussatz, und sie verstand rein gar nichts. Nur, dass der Pater Dionysius bereits wieder am Krankenbett erschienen sei und sie, Taleke, der Lüge bezichtigt habe.
So schnell wie möglich eilte Taleke zu der armen Frau. In Neses Gesicht und auf ihren Händen blühten wasserhelle Bläschen, und sie kochte im eigenen Schweiß. »Blattern«, stöhnte Taleke entgeistert.
»Nein!«, schrie Tidemann. »Warum sollte sie Blattern haben? Hier in der ganzen Gegend gibt es nur erwachsene, fromme Männer, die zum Domkapitel gehören.«
»Geht Nese denn nicht einkaufen?«
»Doch, natürlich. Zum Rathausmarkt. Fleisch essen wir wenig, weil wir Fisch haben. Aber Nese besteht auf Butter. Sie findet, ohne Butter würden wir uns freiwillig zu den Ärmsten bekennen. Und das sind wir nicht!«
»Nein, natürlich nicht«, beschwichtigte Taleke den Binnenschiffer, während sie Nese das Gesicht trocken wischte. Gleichzeitig sann sie nach, wo vor kurzem von Butter die Rede gewesen war.
Dann fiel es ihr ein. Butterbuden! Frau Blomenrot hatte erwähnt, dass sie Hermen zu den Butterbuden geschickt hatte. Anschließend hatte er Blattern gehabt. Konnte Butter Blattern verbreiten? »Ich brauche kaltes Wasser!«
Der Kübel stand schon griffbereit neben der Haustür. Während Taleke mit fliegenden Fingern triefend nasse Umschläge an Neses Unterschenkeln und Handgelenken anlegte, betete Tidemann inbrünstig für das Leben seiner Frau. »Warum hast du mich nicht früher geholt?«, fragte Taleke, als er mit einem vernehmlichen Amen geendet hatte.
»Diese Blattern sind über Nese gekommen wie ein Schwarm Wespen. Gestern war sie etwas unpässlich, was bei Frauen ja öfter vorkommt, und heute früh schaffte sie es nicht einmal mehr aus dem Bett. Sie hat unter sich genässt …«
»Und wann kam der Pater?«, erkundigte sich Taleke, um seine Scham zu überspielen.
»Heute Vormittag. Ich weiß nicht, wer ihm Bescheid gegeben hat, dass Nese krank ist. Ich nicht und mein Sohn auch nicht.«
Merkwürdig, dachte Taleke. Die Domherren mussten ein eigenes Witterungsorgan für ins Haus stehende Stiftungen, Schenkungen und Vermächtnisse besitzen. »Nese ist eigentlich zu alt, um Blattern zu haben. Viele Lübecker in ihrem Alter …«
»Oh, ich weiß, was Ihr meint. Neses Dorf wurde damals von den Blattern verschont. Sie hat es mir mal erzählt.«
Bei Kinderblattern durfte man noch mehr Hoffnung haben, die Krankheit zu überstehen, als bei Erwachsenenblattern, aber Taleke hatte nicht das Herz, dem Ehemann eine solche Grausamkeit zu eröffnen.
»Mein Sohn hat die Blattern gehabt, bevor ich Nese geheiratet habe. Wie es um mich steht, weiß ich nicht.«
Taleke sah kurz zu dem hageren Binnenschiffer hoch. Er sah verhärmt aus, aber nicht angegriffen wie am Beginn einer schweren Krankheit. Dann fiel ihr ein, dass er sie vermutlich längst gehabt hatte, sonst wäre er zusammen mit seinem Sohn erkrankt. »Ich bleibe heute Nacht hier.«
»Und der Seemann? Der arme Hund kann doch nicht vor der Tür hocken!«
Tideke Gameratte! Ihn hatte Taleke völlig vergessen. Sie streckte ihre steifen Glieder und ging vor die Tür. Tideke kauerte an der Hauswand, ohne einen besseren Schutz vor dem kalten Wind als seine kurze Jacke. »Willst du nicht lieber nach Hause laufen«, bot sie an. »Ich bleibe heute Nacht hier, und du kannst mich morgen früh abholen.«
»Ihr glaubt, dass ein mickriger Binnenschiffer Euch aus einem Kampf heraushauen kann, wenn es ernst wird, Meisterin? Nein, wirklich nicht! Mein Schiffer würde mich kielholen, wenn ich Euch solcher Gefahr aussetzte, und das zu Recht! Ich bleibe!«
»Haben dich mal die Blattern befallen?«
»Gottlob nicht, Meisterin.«
»Dann darfst du nicht ins Haus«, erklärte Taleke unglücklich. »Da drinnen sind sie nämlich.«
»Macht nichts. Ich bleibe draußen.«
»Ich werde dir eine Decke herausbringen, aber ich weiß nicht, ob es etwas zu essen gibt.«
»Euer Wächter kann einen
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