Die Heilerin von Lübeck
Anschlag auf meinen Magen erlebt habe.«
»Fürstliche Pastete?«, fragte der Chirurg ahnungsvoll.
»Genau«, pflichtete ihm Taleke mit einem tiefen Seufzer bei. »Mir ist es selten so schlecht gegangen, und der Mann, den ich nach Paris begleitet habe, verlor über der Krankheit, die ihn ums Haar umbrachte, den Ehrgeiz, das Studium der Medizin zu beginnen.«
Der Chirurg nickte mit vorgeschobener Unterlippe. »Tragisch für ihn. Für dich noch mehr. Du bist für die Chirurgie geboren.«
»Meint Ihr wirklich?«, fragte Taleke, wider Willen geschmeichelt.
»Du hast gehandelt wie ein geübter Chirurg nach drei Jahren Lehre. Wer hat es dich gelehrt?«
»Gelehrt?« Taleke runzelte die Stirn. Sie hatte das Innere ihrer geschlachteten Gänse aufmerksam erforscht, und sie hatte ihre Mutter beobachtet. Gespürt, was zu tun war. Da gab es nichts zu erklären. »Niemand.«
»Der Mann, den du begleitet hast … Ist er wie du?«
»Wie meint Ihr das?«
»Wissbegierig, mutig zu eigenen Entscheidungen, entschlossen, Tag und Nacht für Kranke und Arme zu arbeiten …«
War das ein Angebot? »Der Mann«, begann sie vorsichtig, »will nicht das Studium eines Klerikers absolvieren. Er fühlt sich nicht zum Geistlichen berufen. Man hat ihm das als Vorbedingung für das Studium der Medizin genannt.«
Der Chirurg lachte leise. »Ja, der geistliche Stand als Vorbedingung für das Studium ist seit einigen Jahren abhängig davon, an welchen Magister ein Ratsuchender gerät. Die Störrischsten sind nicht immer die Ältesten. Die jungen Baccalaureaten sind oft noch engstirniger als manche Magister.«
»Könnte also der Mann zu einem anderen Magister gehen und eine günstigere Auskunft erhalten?«, fragte Taleke hoffnungsvoll.
»Nein, die erste Entscheidung gilt, auch wenn andere damit nicht einverstanden sind. Warum wählt dieser Mann nicht den Beruf eines Chirurgen?«
»Ich fürchte, er hat den Gedanken an ein Studium aufgegeben.«
»Nun, dann schick ihn zu mir. Vielleicht hat er Lust, Chirurg zu werden. Mein Name ist Maître Josse, man kennt mich hier überall.«
»Aber …«
»Nein, nein, nein! Ich weiß, was du sagen willst.« Der Maître wedelte ablehnend mit der Hand. »Die Chirurgie ist ein Handwerk, kein Studium, und wir leisten unseren Eid nicht dem Kanzler von Notre-Dame, sondern dem Präfekten von Paris. Unsere Lehrlinge müssen Latein beherrschen, aber die Tonsur verlangen wir nicht.« Er fügte noch eine Menge Erklärungen hinzu, von denen Taleke nicht alle verstand. Sie verstand jedoch, dass er bereit war, Nicolaus als Lehrling aufzunehmen.
»Das …, das wäre ja wunderbar«, stammelte Taleke und ließ sich den Weg zum Haus des Chirurgen beschreiben. »Wir kommen zu Euch, ganz bestimmt. Der Mann, um den es geht, ist der Sohn eines Stadtrats, seine Familie ist ehrenwert, berühmt, begütert …«
Maître Josse nickte nur knapp, das alles schien ihn nicht zu beeindrucken.
Taleke sah ihm nachdenklich nach. Er wirkte sympathisch, aber war er wirklich vertrauenswürdig? Der Vorwurf des Maréchals, Maître Josse mache womöglich wieder Ärger, wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Was war mit ihm los? Dennoch – er bot Nicolaus einen Anfang.
Atemlos von der schweren Last des Hafers, den sie in den Markthallen gekauft hatte, stieß Taleke am späten Nachmittag aufgeregt die Tür zur Kammer auf, wo sie erleichtert entdeckte, dass Nicolaus schon zu Hause war. Er saß am Fenster, einen kleinen gelblichen Gegenstand auf dem Schoß.
»Stell dir vor, ich habe einen Lehrer für dich gefunden: Du kannst die
ars chirurgiae
erlernen!«, rief Taleke enthusiastisch.
»Aha. Sieh mal, was ich gekauft habe.«
Taleke trat näher. »Was ist das?«
»Ein Notizbüchlein aus Elfenbein«, erklärte Nicolaus stolz und fächerte mehrere Blätter des Büchleins auf, die sich um eine Achse drehten. »Die Schnitzerei ist eine Erinnerung an die Studienzeit in Paris. Viele Scholaren kaufen solche Dinge, natürlich können sich nicht alle so etwas leisten. Siehst du die Brücke auf dem Vorsatzblatt? Erkennst du sie? Der Grand Pont. Und der Louvre. Schön, nicht?«
»Ja. War es teuer?«
»Es ist jede Ausgabe wert. Daran werden sich noch meine Kinder erfreuen. Was meintest du mit der Chirurgie?«
»Chirurgen behandeln Verletzungen. Du könntest einer werden.«
»Ein Barbier?« Nicolaus spuckte voller Verachtung auf den Boden.
»Nein, kein Barbier! Der Meister erzählte mir, dass er am Morgen zusammen mit zwei anderen Chirurgen
Weitere Kostenlose Bücher