Die Heilerin von Lübeck
Schein der Öllampe an seinen Vater. Pergament und Tinte hatte er sich besorgt, aber das Schreiben ging so langsam und mühselig voran, als hätte er es gerade erst erlernt. Schließlich kam er mit einem erleichterten Seufzer zum Ende, wischte sich den Schweiß von der Stirn, siegelte den Brief und legte ihn beiseite.
»Fiel dir die Frage nach dem Geld so schwer?«, erkundigte sich Taleke besorgt.
»Nein, das nicht«, wehrte er ab.
»Dann ist es ja gut. Und was hast du deinem Vater zu deiner Lehre als Chirurgus geschrieben?«
»Nur, dass ich jetzt darauf hoffen darf, in einigen Jahren mit dem schwarzen Gelehrtentalar heimzukehren.«
Taleke nickte nachdenklich. Reinen Wein hatte Nicolaus seinem Vater nicht eingeschenkt. Aber sie verstand ihn. Sie hätte an seiner Stelle auch nicht aus Paris zurückgerufen werden mögen. Wer wollte diese Stadt mit ihren unendlich vielen Möglichkeiten, sein Leben glücklich zu verbringen, wohl verlassen!
Als erste Pflicht, nachdem Nicolaus am nächsten Morgen gegangen war – in ungewohnter Frühe, was ihn folgerichtig zur Klage veranlasste –, fütterte Taleke ihre Junggänse mit dem Weizenbrei, um sie daran zu gewöhnen. Es lief ihr schon ganz gut von der Hand, und sie hoffte, dass die Gänse sich im Weinlesemonat daran erinnern würden. Und im kommenden Jahr würde es mit den von ihr selbst aufgezogenen Gösseln ganz ohne Probleme gehen, weil diese die Prozedur kannten.
Danach räumte sie das Zimmer unter dem Dach auf und war mit ihrer Tagesarbeit bis zur nächsten Fütterung fertig. Ihr fiel wieder Nicolaus’ ungerechter Vorwurf ein, sie habe die Landessprache so schnell erlernt, weil sie sich in den Gassen herumtreibe. Dabei gab es keinen Grund für sie, den ganzen Tag im Dachzimmer zu verbringen, wenn in den Straßen das Leben wogte. Zumal Nicolaus ja auch immer unterwegs war.
Pah, dachte sie, während sie aus dem Fenster auf die Seine schaute, wo gerade ein Pulk Getreideschiffe vorbeitreidelte, mit dem Ziel Getreidehafen. Flussabwärts begegneten ihnen Flöße, beladen mit Fässern, vielleicht mit Wein.
Das Viertel, in dem sie lebten, kannte Taleke inzwischen gut, sie wusste, wer die besten Pasteten herstellte, die gehaltvollste Brühe aus Mandelmilch mit Wein und Hühnerklein kochte und wer die am reichlichsten mit Pilzen und Speck belegten Fladen verkaufte. Solche Leckereien mussten sie sich in Zukunft versagen, Taleke war entschlossen, sparsam zu wirtschaften, damit das Geld von Nicolaus’ Vater reichte.
An diesem Tag streifte sie weiter umher als gewöhnlich. Zur Feier von Nicolaus’ erstem Tag als Chirurgielehrling hatte sie beschlossen, Teigtaschen mit Wildschwein auf den Tisch zu bringen. Es gab sie, aber sie musste bis ins Viertel Merri wandern, schon jenseits der Straße nach Saint-Denis, wo sie noch nie eingekauft hatte und die Händler nicht kannte. Jedoch verließ sie sich auf die lange Schlange der Wartenden, die schon wissen würden, warum sie dem Mann vertrauten. Taleke konnte gut beobachten und hatte mittlerweile gelernt, die Pariser zu verstehen und sich an ihre vernunftbestimmten Gewohnheiten anzupassen.
Nachdem sie die Teigtaschen erstanden hatte, ging sie weiter, blieb aber kurz darauf mit angehaltenem Atem stehen. Aus einem steinernen, gut instand gehaltenen Haus traten zwei junge Frauen. Sie waren einheitlich gekleidet, konnten jedoch keine Nonnen sein. Nonnen waren gemeinhin streng und abweisend, diese beiden lachten und waren fröhlich. Sie erinnerten Taleke an die Beginen in Lübeck.
Sie starrte sie unverhohlen an. Vermutlich musste das im fremden Land bereits als Unverschämtheit gelten, ging Taleke durch den Kopf, als eine der beiden auf sie zutrat. Es kostete sie Mut, nicht wegzurennen.
»Möchtest du etwas?«, fragte die Frau mit sanfter Stimme. »Wenn du die Armenküche suchst, bist du bei uns verkehrt, du musst dann zu den Beginen bei Saint-Eustache gehen. Wir hier haben uns anderen Aufgaben verpflichtet.«
»Nein, nein.« Verschämt wies Taleke ihren Korb mit dem duftenden Teigtaschen als Beweis vor. »Ich leide keine Not.«
»Suchst du möglicherweise Unterweisung?«
»Unterweisung? Lesen?«, fragte Taleke begierig.
»Ja, wir haben eine Schule, in der wir junge Mädchen in Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichten. Sie sind allerdings jünger als du.«
»Ja, das möchte ich!«, rief Taleke aus. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nicht gewusst, wonach sie eigentlich suchte und warum sie nicht so zufrieden war, wie
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