Die Heilerin von Lübeck
in der Nähe.«
Der Meister, kenntlich durch seine lange Robe, kam, und die Zuschauer wichen zurück, um ihn durchzulassen.
Welcher Meister eigentlich, fuhr es Taleke durch den Kopf, bevor er heran war und sie unachtsam zur Seite schob. In seiner Nähe roch sie den Weindunst, der ihr mittlerweile gut bekannt war.
»Kannst du für die Behandlung aufkommen, Frau?«
»Ja, ja«, schluchzte die Mutter, der die Tränen über die Wangen liefen und die sich mit gefalteten Händen an den Himmel wandte. »Und müsste ich mich dem Teufel verschreiben. Sie ist meine Einzige.«
Die Umstehenden schlugen entsetzt das Kreuz.
»Warum ist der
collega
denn weggelaufen? Damit er sich nicht rechtfertigen muss?« Der Arzt richtete sich an Taleke, da die Mutter offensichtlich zu einer vernünftigen Auskunft nicht fähig war.
»Welcher Kollege?«, fragte Taleke verständnislos.
Die Geste des Mannes umfasste das ganze Bein des Kindes, den Strick, den Knebel, das stockende Blut, und seine Miene ließ Wut erkennen. »Hier war ein Chirurg an der Arbeit, und ich möchte wissen, wer es war. Dies ist mein Bezirk!«
Die Zuschauer retteten Taleke vor seinem Zorn. Alle zeigten auf sie, einige klatschten in die Hände und ließen sie hochleben.
Taleke wusste gar nicht, was ihr geschah, bis der Arzt plötzlich wohlwollend lächelte, sie an den Armen packte und ihr herzhafte Küsse auf beide Wangen verpasste. Unter dem Jubel der Zuschauer erklärte er offenbar der Mutter, dass die Kleine so gut wie gerettet sei, nun, nachdem er ja da sei, und das habe sie dem herzhaften Eingreifen der Fremden zu verdanken.
Er ließ Wasser aus dem nahen Brunnen von Saint-Leu bringen, wusch der Kleinen das Bein, um die Wunde inspizieren zu können, und entfernte dann vorsichtig den Knebel. Aus Stoff formte er ein kleines Päckchen, das er mit einem Sud aus seinem Instrumentenkasten tränkte, und legte darüber zügig einen Verband an. Taleke sah ihm neugierig zu, sie hätte nicht gewusst, wie sie hätte weiter verfahren sollen. Dann ließ sich der Chirurg das Haus nennen, in dem die Familie wohnte, und versprach, am nächsten Tag nach dem Mädchen zu schauen. Sie sahen beide der Gruppe von Leuten hinterher, die das Kind forttrugen, dabei der Mutter lauthals Ratschläge gaben und Trost zusprachen.
Plötzlich fuhr der Maître alarmiert herum und starrte mit eisiger Miene zwei Männern entgegen, die von der Stadtmauer her zu ihnen herüberschlenderten, wobei ihnen eilfertig Platz gemacht wurde. »Die Maréchaux«, murmelte er voller Verachtung. »Jetzt, wo der rasende Reiter längst außer Sicht ist, kommen sie endlich. Pack, gekauftes!«
Das waren sie, die königlichen Schnüffler, von denen Nicolaus ihr erzählt hatte. Unwillkürlich wich Taleke ein wenig zurück.
»Es gibt für Euch nichts zu tun, Maréchal Nouel, Maréchal Pepin«, rief der Meister ihnen gespielt gleichmütig entgegen. »Kein Aufstand, nur ein kleiner Unfall.«
Die Zuschauer, die bis dahin ausgeharrt hatten, nutzten den zu erwartenden Wortwechsel, um sich eilends aus dem Staub zu machen. Anscheinend war die Angst vor den Maréchaux allgemein.
Der spitznasige Maréchal, der offenbar das Sagen hatte, trat so dicht an den Chirurgen heran, dass er fast auf dessen Schuhen zu stehen kam. »Und Ihr, Maître Saufkopf«, fauchte er ihm ins Gesicht, »Ihr macht doch nicht etwa wieder Ärger?«
Der Meister sah mit spöttischer Miene auf den Mann hinunter, ohne ihn einer Antwort zu würdigen.
Der Maréchal, einen Kopf kleiner als Taleke, wartete einen Augenblick und flüsterte dann: »Nehmt Euch in Acht.« Dann machte er auf den Hacken kehrt, wobei er seinen dicken Kollegen mit sich zog, und stolzierte davon.
»Man sieht ihnen geradezu an, dass sie erfolgreich aufmüpfige Bürger zerstreut haben«, bemerkte der Chirurg, um sich dann Talekes Feldhacke zu widmen, die er unter Stirnrunzeln musterte. »Seid dankbar, dass die Maréchaux nicht hinter Euch her waren. Ein solches Gerät lässt sich ohne Weiteres als verbotene Waffe deklarieren. Das Werkzeug eines Chirurgen ist es jedenfalls nicht.«
»Nein, das einer Bauersfrau«, stellte Taleke bereitwillig richtig, erleichtert über den guten Ausgang des Unfalls.
»Das erklärt deinen bäuerlichen Aufzug. Dort, wo du herkommst, kümmert sich da jede Bauersfrau mit einer Hacke um verletzte Kinder?«
»Natürlich nicht«, sagte Taleke und überging seine spöttische Kritik. »Ich brauche sie zu meiner Verteidigung. Obwohl ich hier bisher nur einen
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