Die Heilerin von Lübeck
ganze Gruppe der Zuschauer wegen Aufruhrs zu verhaften. Lasst uns ein Stückchen beiseitegehen.«
Taleke folgte, zutiefst beunruhigt.
»Hinzu kommt, dass Ihr Euch so energisch für Josse eingesetzt habt. Die Leute hätten Euch als Erstes geopfert, um den Maréchaux zu entkommen, denn Josse ist ein Reizwort für alle, die dem ersten und zweiten Stand angehören oder ihm dienen. Ich spreche von Adel und Klerus, versteht Ihr?«
Taleke verstand eigentlich gar nichts mehr und schüttelte den Kopf.
»Ihr seid fremd, tretet aber trotzdem für Josse ein. Mir scheint, Ihr habt selber auf diesem Gebiet Kenntnisse und seid in der Lage, seine Arbeit zu beurteilen. Ich will Euch in groben Zügen erzählen, worum es geht und wie alles anfing: In einer der adeligen Familien benötigte man den besten Chirurgen von Paris, um ein Kind zu kastrieren. Josse, mit anderen Worten.«
»Warum das?«, unterbrach Taleke sie. »Ein Kancer, eine Maledey?«
Die Dame lächelte, als fühlte sie sich in ihrer Vermutung hinsichtlich Talekes bestätigt. »Nein, kein Fall von Maledey, sondern von Politik. Es handelte sich darum, dass in den kaiserlichen Hof von Byzanz ein Lustknabe eingeschmuggelt werden sollte, der in der Lage wäre, für Frankreich zu spionieren. Ist Euch bekannt, dass Byzanz einige Jahrzehnte lang ein lateinisches Kaiserreich unter Führung der Franzosen war?«
»Nein.«
»Nun, es war so. Frankreich verlor die Herrschaft, wollte sie aber wieder zurückgewinnen, und dazu war als Vorhut aller militärischen Truppen nichts besser geeignet als ein Lustknabe. Die Byzantiner ziehen Jungen den aus dynastischen Gründen geheirateten Ehefrauen allemal vor. Eine der hochadeligen Familien Frankreichs war bereit, ihren jüngsten Sohn, der allerdings schon vierzehn Jahre war, also recht alt für die Operation, dafür zur Verfügung zu stellen. Gegen die Zusicherung eines hohen Amtes für den Vater, wenn es eines Tages so weit wäre, Byzanz wieder zu übernehmen. Diese Adelsfamilie glaubte mit anderen Worten, dass sie den nächsten byzantinischen Kaiser stellen könnte. Versteht Ihr, wovon ich spreche?«
Die Operation des Jungen. Trota! »Ich habe Andeutungen in der Trotula …«
Aber die Dame ließ Taleke gar nicht ausreden, so sehr erregte sie, was passiert war. »Das ist gut! Die Operation gelang, der Jüngling, der übrigens schon einschlägige Erfahrungen mit standesgemäßen Altersgenossen in Paris gesammelt hatte, wurde nach Byzanz geschickt. Kurz danach machten in Paris Gerüchte die Runde, Josse sei ein Erzpfuscher. Die Adelsfamilien zogen sich von ihm zurück, verleugneten sich, wenn er auf Krankenbesuch kam, und allmählich begriff er … Er zog dann in diese Gegend.«
»Aber die Adeligen müssen doch gewusst haben, wie herausragend Maître Josse ist«, wandte Taleke ein. »Warum haben sie ihn fallenlassen?«
»Oh, das wussten sie«, stimmte die Dame erbittert zu. »Die Gerüchte stammten aus dem Palast des Kanzlers und Siegelbewahrers, das Amt hatte ein Kardinal inne. Dieser Vertraute des Königs hatte selbst ein Auge auf den Jungen geworfen oder schon mit ihm angebandelt. Seine Leidenschaft war ihm wichtiger als das Schicksal von Byzanz. Und der Hochadel beeilte sich, den Hass des Kardinals gegen Josse zu goutieren. Der Junge starb übrigens später durch die Hand eines Meuchelmörders.«
»Und wer seid Ihr, dass Ihr dies alles wisst?«, fragte Taleke, der es bei diesem Bericht graute.
»Madame Adaliz, Josses Schwester. Lebt wohl. Und danke für Euer Eintreten für Josse.«
Mit einem Mal verstand Taleke, dass die Erbitterung über solche Ungerechtigkeit die Dame Adaliz veranlasst hatte, einer ihr unbekannten Frau Dinge zu erzählen, die sie sonst gewiss für sich behielt. Voller Mitgefühl sah sie Josses Schwester nach, die mit kleinen, schnellen Schritten davoneilte, gefolgt von ihrem wachsamen Diener.
Nicolaus hatte an diesem Tag das Haus zur gewohnten Zeit verlassen, ohne Taleke zu sagen, wo er hinging. Als er am Abend heimkehrte, fragte sie ungnädig: »Wo warst du denn? Im Lesesaal der Bibliothek?«
»Nein, wie kommst du darauf?«, antwortete Nicolaus zerstreut.
»Weil du frei hattest, und weil Maître Josse dir auf die Seele gebunden hat, mehr zu lernen.«
»Er kann Leuten auf die Seele binden, was er will. Was geht mich das an?« Kaum hatte er geantwortet, ging ihm offensichtlich die Konsequenz von Talekes Frage auf. Er starrte sie mit offenem Mund an. »Du warst bei ihm?«
Taleke erzählte ihm von
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