Die Heilerin von Lübeck
eingegangen und habe geschnitten. Und was war es?«
»Eine verkapselte Eiterbeule vielleicht«, antwortete Taleke fragend, in der Annahme, es habe sich um eine an sie gerichtete Frage gehandelt.
Josse verstummte und ließ seine Augen zur Fensteröffnung wandern.
Hätte ich doch nur nichts gesagt, dachte Taleke beunruhigt. Durch ihre spontane Vermutung hatte sie ihn womöglich beleidigt, was nicht ihre Absicht gewesen war.
»Woher wisst Ihr das?«, fragte er schließlich.
»Tja«, sagte Taleke unsicher. Sie wusste nicht, warum er sie dieser Inquisition unterzog. »Wenn sich die Wirbelsäule nicht in der Geschwulst befand und sich das ganze Gebilde womöglich über dem Rücken verschieben ließ, oder wenn sich zwischen Euren Fingern die innere Masse wie junger, weicher Käse anfühlte, musste man den Schnitt wagen. Ich vermute, das war es, was Euch bewog …«
Maître Josse schlug die Hände über seinem Kopf zusammen. »Warum seid denn nicht Ihr mein Lehrling?«, klagte er. »Ich könnte so gut einen aufgeweckten Lehrling mit Liebe zur Berufung gebrauchen.«
»Weil es keine weiblichen Chirurgen gibt.«
»Nur zu wahr, wie wahr! Frauen dürfen die Meisterrolle erwerben und müssen Bewaffnete für Tore und Mauern stellen, aber studieren dürfen sie in Frankreich nicht.«
»Ist es denn anderswo erlaubt?«
»Vor nicht allzu langer Zeit in Salerno bei Rom, ja, es gab sogar weibliche Professoren. Wir verdanken einer Medica namens Trota ein Buch, in dem auch Chirurgie gelehrt wird.«
»Die
Trotula de passionibus mulierum curandorum
ist also von dieser Trota?«, unterbrach Taleke staunend seine nachdenkliche Ausführung.
»Die kennt Ihr?«
»Ich habe ihre Schriften sorgfältig durchgearbeitet«, erklärte Taleke bescheiden.
»Wer mit Euch redet, muss auf dergleichen gefasst sein.« Josse schmunzelte und schüttelte gleichzeitig bewundernd den Kopf.
Taleke fiel erst jetzt auf, dass er seine Anrede geändert hatte. In seinen Augen war sie nun nicht mehr die dahergelaufene Gefährtin seines ungeschickten Lehrlings.
Dann wurde Maître Josse wieder ernst. »Ich glaube deshalb, dass Ihr das Zeug habt, Nicolaus zum Lernen zu bringen. Wenn er das nicht tut, wird er seine Prüfungen nicht bestehen. Darf ich Euch übrigens einen Rat geben?«
Taleke nickte überrascht und geschmeichelt.
Der Meister musterte sie nachdenklich mit schräg gelegtem Kopf. »Ein neues Kleid, nicht wahr? Passend für Bibliotheksbesuche und Unterricht. Aber in den falschen Farben, obwohl Euch Rot und Blau vorzüglich stehen. Nicht alle Pariser sehen diese Farbzusammenstellung gern.«
Taleke runzelte verständnislos die Stirn.
»Nur als kleine Warnung. Die königlichen Maréchaux legen – sofern sie schlechte Laune haben, was meistens der Fall ist – rot-blau als Signal des Protestes gegen den König aus und greifen dann gerne zu. Ihr könnt es nicht wissen …«
»Nein.«
»Ich glaube Euch selbstverständlich. Aber für einen Maréchal, der Tag um Tag den Erfolg seiner Tätigkeit nachzuweisen hat, wärt Ihr ein gefundenes Fressen.«
Taleke erbleichte.
»Grün würde Euch stehen. Was wolltet Ihr eigentlich bei mir, wenn nicht Nicolaus entschuldigen?«
»Oh«, sagte Taleke und zog, wieder errötend, den Korb zu sich heran, um das Tuch von der Schale zu ziehen. »Ich weiß nicht, wer für Euch kocht. Ich habe mir erlaubt, einen Gänseschlegel vom Drehspieß vorbeizubringen, wie ich sie für die Scholaren der Studienhäuser zubereite. Ich hoffe, er mundet Euch. Die jungen Männer reißen sie mir aus der Hand.«
Meister Josse betrachtete das fetttriefende Gänsebein begehrlich und schnupperte mit geschlossenen Augen darüber hinweg. »Ich auch, ich auch. Oder ist die Gabe als Bestechung gedacht?«
Taleke fuhr vom Lumpenlager hoch, als wäre sie von einer Hornisse gestochen worden. Was erlaubte Josse sich? Nie hätte sie an so etwas gedacht.
Sie stürmte grußlos hinaus, ließ Korb und Schale zurück. Diese Beleidigung war zu arg!
Auf der Gasse kochte Taleke noch immer vor Wut. Dieser ungehobelte Kerl hatte ihr Geschenk wahrhaftig nicht verdient. Dabei hatte sie gemeint, ihm etwas Gutes tun zu müssen, als sie gesehen hatte, wie mager er war.
Sie achtete nicht auf den Verkehr auf der Rue Saint-Denis, bis sie von hinten angebrüllt wurde, aus dem Weg zu gehen. Ein Bauernkarren. Der Esel bekam die Peitsche zu spüren, damit er nicht langsamer wurde als die endlose Reihe von Wagen hinter ihm, die alle nach Paris
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