Die Heilerin von Lübeck
Hause in Lübeck.
Am nächsten Tag, dem Ende der Fastenzeit und Beginn des neuen Jahres, hatte Taleke als Festessen Lamm mit Rübenmus geplant, das sie dank des noch vorhandenen Holzes im Gänsegarten zubereiten konnte. Dann war der Lammtopf fertig, aber Nicolaus kam nicht nach Hause.
Als er am nächsten Tag ebenfalls ausblieb, fürchtete Taleke schon, dass alles vorbei war, dass sie jetzt in einer fremden Stadt allein auf sich gestellt war.
Am dritten Tag schleppte Nicolaus sich übermüdet die Treppe hoch. Taleke konnte kaum glauben, dass er es leibhaftig war. Verblüfft registrierte sie, dass er Stolz zur Schau trug.
»Was ich gemacht habe, errätst du nie!«
Taleke schüttelte hoffnungsvoll den Kopf.
»Maître Josse und ich mussten einem Mann ein Bein abnehmen und danach Tag und Nacht bei ihm wachen. Der Mann war vor einiger Zeit vom Pferd gestürzt und hatte einen offenen Beinbruch davongetragen. Ein Pfuscher hatte ihn behandelt, worauf sich Brand in der Wunde ausbreitete.«
Taleke fiel ein Stein vom Herzen. Endlich hatte Nicolaus so gearbeitet, wie sein Lehrherr es erwarten durfte. »Wird er überleben?«
»Mit Gottes Hilfe, sagt Josse.«
»Der Herr sei mit ihm. Ich habe Lammtopf für dich. Möchtest du jetzt essen?«
»Nur einen Happen. Dann will ich schlafen.«
Nicolaus benötigte ein weiteres Buch. Dankbar für diesen glücklichen Umstand eilte Taleke zu der Bibliothek im Quartier Latin und gab die vier bereits gelesenen Werke ab. Ein Buch wollte sie für sich selbst ausleihen.
Der Bibliothekar nickte. »Beide Bücher sind da. Für mich wäre es weniger Schreibarbeit, wenn du wieder vier mitnehmen würdest statt zwei.«
»Oh.« Den Gefallen konnte sie ihm gerne tun, nachdem sie endlich begriffen hatte, wie die Ausleihe funktionierte. In diesem Augenblick erst war Taleke auch aufgegangen, dass sie regelmäßig für sich selbst Lektüre im Austausch mitnehmen konnte, um das ihnen ohne Zuzahlung zugestandene Kontingent auszuschöpfen. Nicolaus würde freiwillig keinen Blick in die Bücher werfen.
Aus dem Handgelenk konnte sie die Titel nennen, die sie brennend interessierten, und sie und der Bibliothekar trennten sich sehr zufrieden in der beiderseitigen Erkenntnis, dass Bücher zum Leben gehörten wie Speisen und Wein.
Seltsamerweise hatten die Zwistigkeiten zwischen Taleke und Nicolaus mit dem Tag aufgehört, an dem er seinem Lehrherrn bei der Amputation zur Hand gegangen war. Womöglich war er wegen des mangelnden Vertrauens von Josse in ihn so widerborstig gewesen. Taleke war glücklich, dass sich dies nun geändert hatte.
Obendrein hatte der Vater Geld geschickt, und Nicolaus gab es mit vollen Händen aus. Da Taleke wusste, wie empfindlich er war, fragte sie nicht, sondern erlaubte sich, wieder bessere Speisen in den Garküchen zu kaufen. Nicolaus war es zufrieden.
Die Gänsebraterei hatte Taleke aufgegeben, stattdessen las und lernte sie. Die Mädchen in Mutter Emihilds Schule hatte sie längst überholt. Zuweilen ließ sie sich von der Begine bei komplizierten Passagen in ihren Büchern helfen.
Eines der schwierigen Themen war die Unfruchtbarkeit von Frauen. Emihild übersetzte stotternd, wurde rot im Gesicht und gab auf.
»Es gibt also fruchtbare Tage der Frau und unfruchtbare. Und wenn man keine Kinder will, muss man die fruchtbaren Tage vermeiden«, fasste Taleke zusammen. »Richtig? Sagt die Trota das so?«
Emihild schüttelte entsetzt den Kopf und legte eine Hand vor die Augen. »Mehr übersetze ich nicht!«, wimmerte sie. »Das ist Sünde vor dem Herrn!«
»Wieso Sünde? Das ist bei Frauen wie bei Sauen«, erkannte Taleke staunend. »Die lassen sich auch nur zu bestimmten Zeiten vom Eber besteigen. Und Stuten vom Hengst. Jeder Bauer weiß das, und keiner hält es für eine Sünde, sondern richtet sich danach. Man sollte es den Priestern einmal erklären.«
»Nein, nein!« Emihild hielt sich die Ohren zu.
Taleke zog ihr behutsam eine Hand vom Ohr. »Wenn Männer und Frauen zu bestimmten Zeiten so wollüstig sind wie Tiere, Mutter, unterscheiden sie sich doch in Wahrheit nicht von ihnen, oder?«, flüsterte sie.
Emihild erhob sich so abrupt, dass ihr Hocker umstürzte. »Ich werde unserer Grande Dame von deinen gottlosen Gedanken Mitteilung machen.«
Kurze Zeit später erhielt Taleke von der Pförtnerin Bescheid, dass sie nie mehr wiederkommen solle.
Ungläubig tappte Taleke den schmalen, langen Flur entlang, an dessen Ende sie widerwillig die Außentür aufzog.
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