Die Heilerin von Lübeck
hineinstrebten.
Der Beginn der Fastenzeit. Offensichtlich mussten sich noch viele Bürger mit dem Notwendigsten vom Land eindecken. Ihre Mutter hätte gespottet, dass es vor allem die geistlichen und weltlichen Fürsten seien, die sich jetzt noch mit ausreichend Biber, Fischotter, Rohrhühnern, Tauchenten, Butter, Marzipan, Wein und viel, viel Mehl eindeckten. Um die Stadt, das Land und die Gläubigen mit aller Kunst zu regieren, durften sie schließlich nicht vom Fleische fallen.
Taleke war es gleichgültig. Dicht an den Hausmauern entlang schritt sie vorwärts, ohne die vielen Fußgänger richtig wahrzunehmen. In ihrem früheren Leben auf dem Gutshof – sie erschrak, als sie merkte, wie fern es ihr bereits war – hatte sie nichts besonders genau genommen, sie hatte gleichmütig vor sich hin gelebt und Vorteile, die sich ihr boten, ergriffen. Inzwischen aber hatte sie so etwas wie Selbstachtung entwickelt, was mit dem Unterricht bei den Beginen und ihrem neuen Wissen zu tun hatte.
Jetzt wusste sie mit dem Wort Bestechung mehr anzufangen als früher, wo sie mit den Schultern gezuckt hätte. Josse hatte ihr mehrfach zu verstehen gegeben, dass Nicolaus für die Lehre der Chirurgie nicht geschaffen war, und nun unterstellte er ihr allen Ernstes, dass sie im Begriff war, Nicolaus’ Lizenz zu kaufen. Eine Unverschämtheit! Aufs Neue brodelte in ihr der Zorn.
Plötzlich stieß sie gegen Fußgänger, die nicht weiterkamen, und auf der Straße stauten sich Karren. »Was ist los?«, fragte Taleke eine Frau.
»Anscheinend ist ein Kind überfahren worden. An so einem Tag sollte man Kinder an die Hand nehmen«, schimpfte die Frau.
Überhaupt sollte man diese gefährliche Straße mit Kindern meiden, dachte Taleke, während sie zwischen den Passanten hindurchschlüpfte, bis sie bei dem verunglückten Jungen ankam. Betroffen starrte sie auf das Blut, das ihm aus der Seite floss. Die zerfetzte Kleidung gab eine bleiche Rippe und darunter eine dunkelrote, feste Masse frei. »Um Himmels willen«, rief sie, »holt auf der Stelle Maître Josse!« Wenn einer helfen konnte, dann er, auch wenn sie keine Ahnung hatte, ob ein Mensch zu retten war, dessen Blut durch die Leber auf das Straßenpflaster sickerte. Hier konnte man nichts abbinden, sie jedenfalls nicht.
»Dieser Trunkenbold! Misch dich nicht in Dinge ein, von denen du nichts verstehst, Fremde! Zu uns gehörst du nicht, trotz deiner anbiedernden schrillen Farben!« Die Frau mit gewöhnlichem Gesicht, die die Warnung ausgesprochen hatte, zerrte Taleke derb von Sohn und Mutter fort. »Das Kind wird sterben. Das sieht ein jeder. Lass es in Ruhe!«
»Aber Meister Josse …«
»Still, der Priester kommt!«
Die Umstehenden senkten die Köpfe und begannen leise zu beten, indes Taleke mit hartem Griff aus ihrem Kreis gezogen wurde. Sie sträubte sich heftig gegen den Kerl, der sie gepackt hatte. Er war in Begleitung einer Dame, die durch ihren goldenen Gürtel als Angehörige einer höheren Gesellschaftsschicht ausgewiesen war und Talekes Aufmerksamkeit auf sich zog, indem sie sachte den Kopf schüttelte und einen manikürten Finger auf die Lippen legte.
Taleke hörte auf, sich zu wehren. Als sie außerhalb des Kreises der dichtgedrängten Zuschauer angekommen war, merkte sie, dass die vornehme Bürgerin ihnen gefolgt war.
Hinter vorgehaltener Hand begann sie zu sprechen. »Es ging nicht gegen Euch, sondern gegen Maître Josse. Er hat hier herum einen schlechten Ruf, weil er häufig berauscht bei den Hilfsbedürftigen erscheint. Nun ist er zwar volltrunken immer noch besser als der Rest der Chirurgen, aber er macht gelegentlich Fehler. Zuweilen macht er die größten Fehler, wenn er nicht betrunken ist. Ein einziger reichte, um sein Leben zu zerstören.«
»Welcher war das?«, flüsterte Taleke verstört. Obwohl ein paar Wagenlängen entfernt ein Kind starb, lockte es sie, endlich mehr über den rätselhaften Maître Josse zu erfahren. Die Madame wusste etwas. Aber was hatte der Kerl mit der harten Hand mit ihr zu tun? Talekes Blick schweifte argwöhnisch zu ihm hinüber. Er war außer Hörweite stehen geblieben und musterte unablässig wachsam die Umgebung.
Die Pariserin nickte in seine Richtung. »Keine Sorge. Mein Diener. Er hat Euch auf meine Bitte da herausgeholt, weil die Bevölkerung im Augenblick sehr aufgebracht und widerspenstig ist. Eure Farben, Blau und Rot, sind die einer streitbaren Bürgerin. Sie wären für die Maréchaussée ein prächtiger Anlass, die
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