Die Heilerin von Lübeck
Dieses Mal für immer. Als die Pforte sich hinter ihr schloss, verstummte das Gekreisch der Mädchen. Auch das würde sie vermissen, obwohl es häufig genug Häme gegen sie enthalten hatte. Die Beginen waren zu höflich gewesen, um Taleke zurechtzuweisen. Jedoch hatten sie ihr zu verstehen gegeben, dass manche ihrer Fragen und Einwände zu verstörend für Kindergemüter waren.
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Teil III
Paris, Frühjahr 1308
Kapitel 11
Die Sonne stach vom Himmel, obwohl der Ostarmanoth noch weit entfernt war. Zwischen Taleke und Nicolaus herrschte seit Weihnachten Frieden. Sie studierte ihre Bücher im Dachzimmer und ging nur aus, um das Notwendigste zum Essen zu besorgen. Mit den Grundlagen in Latein kam sie inzwischen ganz ordentlich zurecht. Die Junggänse fütterte sie immer noch, aber mästen und verkaufen wollte Taleke sie nicht mehr. Sie wären auch in der eigenen Küche willkommen.
Nicolaus ließ sich weiterhin von ihr vorlesen und lernte die Texte auswendig. Zuweilen disputierten sie über den Inhalt, und dann war es fast so, als säßen sie bei einem der Medizinprofessoren in der öffentlichen Vorlesung auf einem Platz des Quartier Latin. Gelegentlich flocht Taleke eine Frage nach einer lateinischen Wendung ein, und Nicolaus fühlte sich geschmeichelt und ihr überlegen. Er war es nicht, aber das blieb ihm verborgen. Schließlich erzählte sie ihm nicht, dass sie selbst öfter auf der Gasse um Rat gefragt wurde, wenn es um Frauenangelegenheiten ging. Sie gab ihre Ratschläge gern und stellte oftmals später voller Genugtuung fest, wie richtig diese gewesen waren.
Aber auch Nicolaus machte Fortschritte. Umso überraschter war Taleke, als er eines Abends hereinstürmte, sein Barett auf den Boden schmetterte und zum Weinkrug griff.
»Stell dir vor«, geiferte er, das Gesicht rot vor Zorn, »Josse hat mich beschuldigt, illegal Kranke zu behandeln!«
»Aber es stimmt, was er sagt, oder?«
»Er weiß sehr gut, dass ich behandeln kann. Und es gilt immer noch der alte Spruch: Wer heilt, hat recht«, schnaubte Nicolaus. »Trotzdem hat er mir vorgehalten, es sei ungesetzlich, und der Rat werde mir den Prozess machen und mich einsperren.«
»Um Himmels willen, nimm dich nur in Acht, Nicolaus«, warnte Taleke betroffen.
»Das ist nichts als eine haltlose Drohung. So ein Schwätzer! Ich kenne mehrere ärztliche Scholaren, die ohne Wissen ihres Lehrers das Gleiche tun, und noch nie ist einer, der erwischt wurde, angeklagt worden. Schärfer als die Magister sind die Baccalaureaten, mit denen ist nicht gut Kirschen essen, aber trotzdem wurde nie ein Scholar bestraft.«
Am liebsten hätte Taleke Nicolaus von diesem Thema abgelenkt. Sie tat immerhin dasselbe wie er, allerdings ohne dafür Geld oder irgendetwas anderes anzunehmen. »Vielleicht hat sich Josse nur über dich geärgert. Du schmälerst seinen Verdienst.«
»Er hat sich geärgert, aber nicht über mich.« Nicolaus lachte gehässig. »Er hat mir erzählt, worüber. Es geht um Privilegien. Die Schulmediziner wollen erreichen, dass auch die Barbiere vom nächtlichen Wachdienst an den Toren befreit werden. Und weißt du, warum?« Er schlug sich auf die Schenkel vor Vergnügen.
»Nein.« Taleke seufzte unhörbar. Sie wäre gern zu ihrem Text zurückgekehrt. »Warum?«
»Weil die Chirurgen nachts nie zu finden sind, wenn man sie braucht. Sie hocken in den Tavernen.«
Da war wohl etwas Wahres dran. Josse war, wie es Taleke schien, hauptsächlich an den Prüfungstagen nüchtern. Also an zwei oder drei Tagen im Jahr. »Aber wenn die Barbiere vom Wachdienst befreit werden, sitzen sie mit den Chirurgen zusammen in den Schenken und saufen.«
»Klar! Allerdings nicht mit den Chirurgen, sondern mit den Schulmedizinern. Die Ärzte hofieren die Barbiere, und ihre gemeinsamen Feinde sind die Chirurgen.«
»Wie albern«, befand Taleke mit einem Hauch Verachtung.
»Was fällt dir ein?«, brauste Nicolaus plötzlich wieder auf. »Das kannst du gar nicht beurteilen.«
»Nein, das kann ich wohl nicht«, gab Taleke zu. »Und was nun?«
»Na ja. Ich werde mich einige Zeit zurückhalten. Dann hat Josse seinen Ärger vergessen, und ich mache weiter. Ich bin schon sehr erfolgreich.«
»Aber sei um Himmels willen vorsichtig.« Taleke sah ihn bittend an. Nicolaus war so gerührt über ihre Anteilnahme, dass er sie kurz umarmte. In ihr breitete sich ein warmes Gefühl aus, die Hoffnung, dass nun endlich alles gut würde. Sie sehnte sich nach einer ungetrübten
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