Die Heilerin von Lübeck
angelangt. Durch die sehr klare und verständliche Beschreibung hatte sie begriffen, dass die Pocken ihr gar nicht unbekannt waren, nur wurden sie zu Hause Blattern genannt. Anscheinend gab es eine weitere Krankheit, die Razes von Pocken unterschied. Vielleicht die Roten Flecken, die häufig gutartig waren? Auf dem Gut hatten sie meistens zu allem, was die Haut befiel, Blattern gesagt.
Besonderes Staunen rief in ihr Razes’ Beschreibung des Blutes hervor. Er verglich es mit Traubensaft: bei Kindern mit unvergorenem Saft, bei jungen Leuten mit einem nach der Gärung zur Ruhe gekommenen und bei Greisen mit einem schalen, sich in Essig verwandelnden Saft. Das bei der Gärung aufbrausende Blut der Kinder sei verantwortlich dafür, dass kaum ein Kind den Blattern entgehe; junge Leute mit trockenen und mageren Körpern hingegen, die in ihrer Jugend von schwachen Blattern befallen gewesen seien, verschone die Krankheit; bei Greisen breche sie nur aus, wenn sie in verseuchter, verfaulter Luft lebten und ihr Blut dadurch in einen ähnlichen Zustand überginge.
Zum Schluss gab Razes viele Ratschläge, wie Pockenkranke zu behandeln seien. Taleke sinnierte in die nächtliche Dunkelheit hinaus, in der keine Sterne zu sehen waren. Wahrscheinlich würde es bald regnen. Sie selbst war in ihrer Kindheit den Blattern entgangen, weil diese einen Bogen um das Gut gemacht hatten, und später, als sie die nachgewachsenen Kinder befielen, war sie durch Zufall verschont geblieben.
Manches Gutskind war unter den pflegenden Händen ihrer Mutter gesund geworden, ohne dass die Mutter jemals etwas von der Behandlung mit Rosenwasser, Galläpfeln, Granatäpfeln oder Antimon gehört hatte. Und da die Mutter in ihrer Widerspenstigkeit gegen alles, was über ihr stand und Befehle erteilen wollte, auch nicht fromm war, konnte auch der Herr ihr wohl kaum geholfen haben.
Und deswegen hatte die Mutter sich gesorgt.
Als Taleke sich wieder dem Buch zuwandte, entdeckte sie einen Anhang, in dem es um eine Krankheit mit dem Namen Pest ging. Es war ein schwer verständlicher Text, dem Taleke vor allem entnahm, dass es in alter Zeit in Rom Banden gegeben hatte, die sich Zugang zu Pestkranken verschafften, um mit einer blitzschnellen Handbewegung deren Pestpusteln anzustechen. Anschließend schwärmten die Bandenmitglieder aus, um bestimmte Männer, die ihnen durch einen reichen Auftraggeber bezeichnet worden waren, mit den durch Pustelstaub vergifteten Nadeln zu bearbeiten, was in einer Menschenmenge leicht möglich war. Häufig starben dann diese Opfer ebenfalls an der Pest, was auch das Ziel des Auftrags gewesen war.
Männer waren offenbar zu allen Zeiten die größten Feinde anderer Menschen.
Taleke wurde plötzlich von einem Gähnzwang befallen, an dem sie merkte, wie erschöpft sie war. Ohne das Buch wegzuräumen, legte sie sich schlafen. Sie würde ohnehin am Morgen die Erste sein, die aufstand.
Die ersten Sonnenstrahlen malten einen hellen Flecken auf die Wand, und im Gegenlicht sah Taleke Nicolaus, der mit äußerst interessierter Miene in den Seiten über das Peststechen las. Seine Lippen formten Worte, und es dauerte lange, bis er sie verarbeitet hatte. Taleke blinzelte durch die halbgeschlossenen Lider und achtete darauf, langsam und gleichmäßig zu atmen, als ob sie noch schliefe.
Irgendwann gab er auf, weil er von Josse erwartet wurde, und Taleke rührte sich und kroch aus dem Bett. Kurz darauf lief er los.
Taleke nahm an, dass Nicolaus die Abhandlung bis zum Abend vergessen hätte. Es dämmerte schon, und sie bereitete gerade das Abendessen vor, als er sie damit überraschte, dass er ihr befahl, ihm die Seiten über die Stecherei vorzulesen.
»Warte, erst will ich mit dir reden! Der Mann, der dich gestern sturzbetrunken nach Hause gebracht hat, hat mir Gewalt angetan.«
»Na und? Man kann sich ja wohl mal betrinken!«
»Darum geht es nicht! Er hat mich vergewaltigt, hörst du, Nicolaus?«
»So etwas passiert nun mal alle Tage. Du lebst ja noch.«
Taleke bebte vor Empörung über seine Gleichgültigkeit. »Was ist das für ein Freund? Ich hoffe, du wirst dich von ihm lossagen!«
»Versuch nicht, mir zu befehlen, was ich zu tun habe! Und jetzt lies mir vor!«, schnauzte Nicolaus in so drohendem Ton, dass Taleke an die Wand zurückwich. Da stand er schon mit geballten Fäusten vor ihr.
»Ist ja gut, ich komme gleich«, stammelte sie. »Kannst du nicht möglicherweise selbst lesen, bis ich das Mus angerichtet habe?«
»Ich bin
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