Die Heilerin von Lübeck
Freundschaft ohne ständige Enttäuschungen.
Eines Morgens huschte eine junge Frau aus der Nachbarschaft, von deren Hochzeit Taleke im Winter gehört hatte, in ihr Zimmer. Melisende war schüchtern, trotzdem nahm sie kein Blatt vor den Mund und fragte geradeheraus, wie sie es anstellen müsste, so schnell wie möglich ein Kind zu empfangen. »Die Hebamme des Bezirks soll mit den Händen sehr geschickt sein, aber nicht mit dem Kopf«, nannte sie als Erklärung.
Taleke erschrak, denn es war das erste Mal, dass jemand sie zu Hause aufsuchte, als wäre sie eine anerkannte Heilerin. Dann besann sie sich darauf, dass Trota ihr das Handwerkszeug geliefert hatte und sie frei war, deren Kenntnisse weiterzugeben.
Sie ging gründlich vor, befragte Melisende ausführlich und errechnete schließlich, dass die Woche nach der österlichen Fastenzeit günstig sein müsste. »Und du solltest dich beim Fasten nicht zu sehr kasteien. Erkundige dich bei deinem Beichtvater, ob er dir Milch und Käse erlaubt. Sag, du seist krank und würdest dafür auf Biber und Wal verzichten.«
»Ich kann doch einen Priester nicht anlügen! Biber habe ich noch nie gegessen. Und was sind Wale?«
»Ich kenne sie auch nicht«, bekannte Taleke. »Aber ich weiß, dass sie große Wassertiere sind und die Bischöfe alles als Fastenspeise anerkennen, was aus dem Wasser kommt.«
»Mein Beichtvater ist ein milder Kirchenherr«, sagte Melisende mit verschämt gesenktem Kopf. »Sobald ich in Umständen bin, wird er es sicher erlauben, auch wegen der Schenkung, auf die er hoffen kann, wenn alles gutgeht. Mein Ehemann ist steinalt. Es eilt ihm. Er möchte seinen Sohn gerne sehen, bevor er stirbt.«
»Das verstehe ich«, murmelte Taleke und winkte der Frau nach, als sie die Treppe hinunterstieg, so vorsichtig, als wäre sie bereits in Umständen. Taleke konnte sich denken, dass es auch um das Erbe ging. Vermutlich war der uralte Ehemann reich, und die Verwandtschaft würde der Witwe Schwierigkeiten bereiten, wenn kein Kind da war.
Dass sich auf den Gassen herumgesprochen hatte, dass sie aus Büchern über Krankheiten, richtige Ernährung, Hebammenwissen und Schmink-Arzneien Wissen bezog, war Taleke ein wenig unheimlich. Manchmal ging ihr die Ermahnung ihrer Mutter durch den Kopf, ja nicht aufzufallen. Andererseits stimmte auch Nicolaus’ Spruch: Wer heilt, hat recht.
Paris schwirrte von Gerüchten. In allen Gassen sprach man davon, dass der unermesslich reiche Templerorden jetzt sein Vermögen einbüße, weil der König seine Hand darauf gelegt habe. Und dabei ging es anscheinend nicht nur um den riesigen ummauerten Handelshof der Templer jenseits der Pforte Saint-Martin.
Die Marktfrau am Grand Pont, bei der Taleke Fische zu kaufen pflegte, wusste noch mehr. Über den Schragen gebeugt, flüsterte sie Taleke zu: »Die Tempelbrüder haben doch ihre Ordensregeln, nicht?«
Die Frau war erfahrungsgemäß nicht aufzuhalten. Also war es gescheiter, ihrem Redefluss freien Lauf zu lassen. Taleke nickte mäßig begeistert.
»Einer davon lautet: Die Brüder sollen ihre Knappen nicht schlagen. Weil die aus Liebe dienen! Zu wem wohl, das frage ich dich.«
Taleke hätte »Gott« geantwortet, aber die Fischhändlerin wollte keine Antwort.
»Zu ihrem Ritter natürlich. Und das ist so widernatürlich wie ein Bauer, der seine Ziege vögelt! Unser Philipp der Schöne ist ein großer Herrscher. Er zwingt alle in die Knie, die Gottes Geboten zuwiderhandeln, ob es die Tempelritter sind oder der Papst. Und natürlich braucht er dafür Geld. Das ist so klar wie meine Fischtunke.«
»Ja«, sagte Taleke matt. Sie hatte zwar auch schon Schreckliches über diesen König gehört, aber er interessierte sie nicht. Jedoch ließ die Frau sie so leicht nicht davonkommen, zumal sich jetzt, nach dem späten Morgenmahl der begüterten Bürger, nur spärlich Käufer einfanden.
»Die Häscher sollen sogar versteckte Briefe gefunden haben, in denen dem Großmeister über Brüder berichtet wird, die … na, du weißt schon, es miteinander getrieben haben. Deswegen ist selbst unser Heiliger Vater mit ihrer Bestrafung einverstanden.«
»Tatsächlich«, murmelte Taleke, um dann entschlossen zu sagen, dass sie mit dem Fisch nun nach Hause müsse.
»Er ist frisch, der braucht nicht vor der Non in den Topf«, rief die Fischersfrau ihr hinterher, aber Taleke dachte gar nicht daran, sich noch einmal umzudrehen. Außerdem war der Fisch nur so frisch, wie die ungewöhnlich große Hitze es
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