Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Beziehung zu Feyra unterhalten, wie er geplant hatte, aber er durfte doch sicher darauf hoffen, dass sie im Lauf der Zeit wieder Freunde werden würden. Er redete sich ein, dass es ihn schon glücklich machen würde, nur mit ihr zusammenzusitzen, ihr Gesicht zu sehen und über die Dinge zu sprechen, die ihnen beiden am Herzen lagen. Auf halbem Weg blieb er stehen. Er würde jetzt zu ihrem Haus gehen, anklopfen und sie bitten, mit zu ihm an sein Feuer zu kommen.
Dann sah er den Brunnen. Die hellen Steine schimmerten im Dunkel. Der Löwe, der das geschlossene Buch in den Tatzen hielt, starrte ihn mit leeren steinernen Augen an. Von plötzlicher Panik überkommen, machte er kehrt und rannte nicht zu Feyras Haus, sondern zu seinem eigenen.
Er stürmte zur Tür herein und die Treppe hoch und riss dabei seine Maske ab. Dann kroch er unter das Bett und hob die lose Bodendiele an, unter der der Cason-Schatz versteckt war. Die Diele ließ sich so leicht lösen, als wäre sie erst vor kurzem wieder an ihren Platz zurückgelegt worden. Der Hohlraum darunter war leer, die Schatulle verschwunden.
Annibale ließ verzweifelt den Kopf sinken, bis seine Stirn die Dielen berührte. Der nutzlose goldene Schlüssel baumelte an seinem Hals.
33
Annibale war mit seiner Weisheit am Ende.
Paradoxerweise hatte sich die Kluft zwischen ihm und Feyra nach dem Verschwinden seiner Mutter vergrößert.
Von seinem Vermögen war nichts geblieben. Die Münzen in seinen Taschen würden nur noch wenige Tage lang reichen. Jetzt würde das Krankenhaus und seine utopische Insel wegen des Diebstahls, den seine Mutter begangen hatte, nur bis zum Ende der Woche überleben.
Die Familien würden nach Hause zurückkehren, die Toten und Sterbenden hierbleiben und die Schwestern wieder ihr Ordenshaus beziehen. Was aus Feyra werden würde, wusste er nicht. Vermutlich musste er sie zum Festland bringen und ein Schiff finden, das vielleicht von Ancona oder Ravenna aus in die Türkei fuhr. Er verwünschte sich dafür, seiner Mutter geglaubt und tatsächlich gedacht zu haben, sie wäre imstande, sich zu ändern.
Da ihm keine andere Wahl blieb, bat er Feyra, ihn an diesem Abend in seinem Haus zu besuchen, und betete, dass er beim Anblick ihres schönen Gesichts an seinem Vorsatz festhalten würde.
Sie folgte seiner Aufforderung, setzte sich aber nicht auf ihren gewohnten Stuhl, weil sie wusste, wer ihn während ihrer Abwesenheit mit Beschlag belegt hatte. Stattdessen blieb sie stehen und registrierte traurig, dass er zum ersten Mal, seit sie in diesem Haus miteinander allein waren, seine Maske nicht abgenommen hatte. Und sie ihren Schleier auch nicht.
»Zuerst«, begann der Vogelmann mit gedämpfter Stimme, »möchte ich dich beruhigen. Ich werde das Angebot, das ich dir vor einiger Zeit gemacht habe, nicht erneuern.«
Feyra schluckte. Sie hatte es gewusst, aber es zu hören schnitt ihr ins Herz. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und schwieg, weil sie fürchtete, ihre Stimme könne sie verraten.
»Zweitens muss ich dir leider mitteilen, dass der Cason-Schatz fort ist.«
Er äußerte sich nicht näher dazu, hatte aber vergessen, wie gut sie ihn kannte.
»Und deine Mutter?«
Die Vogelmaske blickte zu Boden. »Auch fort.«
Sie erwiderte nichts darauf.
»Daher muss die Insel geräumt und der Republik zurückgegeben werden. Das Krankenhaus wird in sieben Tagen geschlossen. Ich werde dich bis zum Ende der Woche bezahlen und mein Bestes tun, um für dich eine Rückfahrmöglichkeit in den Osten zu finden.«
Da war er. Der Moment, für den sie gearbeitet und all die kleinen goldenen Zechinen gespart hatte, die in ihrem gelben Pantoffel klimperten und die Heimreise nach Hause versprachen. Während des letzten einsamen Monats hatte sie begonnen, über das Leben nachzudenken, das sie führen konnte, wenn sie in die Türkei zurückkehrte. Natürlich nicht nach Konstantinopel, sondern an irgendeinen weit vom Auge des Sultans entfernten Außenposten wie Antiochia oder Tarsus, wo sie vielleicht eine eigene Arztpraxis eröffnen konnte. Sie wollte fortsegeln und den Westen nie wieder sehen. Doch stattdessen sagte sie: »Es muss nicht dazu kommen. Ich habe einen Trank entwickelt, ein Antidot, das ich Theriaca nenne. Lass es mich verkaufen, um das Krankenhaus zu finanzieren.«
Der Vogelmann schlug sich mit der Faust in die Handfläche, sprach aber mit ruhiger Stimme. »Ich habe dir oft genug gesagt, dass ich es verurteile, sich mit nutzlosen
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