Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
sich der Familie des Christengottes und seines Hirtenpropheten anzuschließen. Sie wusste, dass ihre Mutter diesen Schritt in umgekehrter Richtung vollzogen hatte, aber sie fand allein den Gedanken daran verabscheuungswürdig.
Doch als die Badessa die Bibel erwähnt hatte, war ihr wieder etwas in den Sinn gekommen, was ihre Mutter gesagt hatte: Die Bibel war das Buch der Bücher, und darin würde sie alles finden, was sie über die vier Reiter wissen musste. Jetzt, wo ihre Abende wieder ihr allein gehörten, hatte sie öfter und öfter über das Rätsel nachgegrübelt und versucht, sich an die lange vergessenen Worte ihrer Mutter zu erinnern. Nun, wo sie eine Beschäftigung brauchte, beschloss sie, das Geheimnis der vier Pferde zu lüften.
Sie saß vor ihrem eigenen Feuer, einer ärmlicheren Version von Annibales Kamin, und betrachtete das in ihrem Schoß liegende Buch. Es war in karminroten Samt gebunden, mit silbernen Klammern versehen, und die Kanten der Seiten waren kunstvoll vergoldet.
Feyra schlug das Buch so vorsichtig auf, als könne sie sich daran die Hände verbrennen. Das kunstfertig hergestellte Pergament war glatt und milchig und der Rücken mit zierlichen Stichen genäht. Es handelte sich offensichtlich um ein sehr wertvolles Buch, und es hatte die Badessa sicher einige Überwindung gekostet, es ihr zu überlassen. Die Schrift war eng und schwarz, der Text leuchtend bunt illustriert. Die Bilder zeigten Engel und Dämonen, die Erlösung oder Verdammnis verhießen. Dieses Buch hatte Gewalt gegen ihr Volk und Schmähungen ihres Glaubens legitimiert, und dennoch blätterte sie die Seiten entschlossen um. Sie kämpfte mit den lateinischen Worten, doch in gewisser Weise brachte sie dies Annibale näher, denn sie las die Sprache, die er sie gelehrt hatte. Sie fand es seltsam, dass die Sprache der westlichen Medizin auch die des christlichen Glaubens war, obwohl beides Annibale zufolge manchmal in scharfem Gegensatz zueinander stand. Er hatte ihr einmal erzählt, dass die Kurie von Padua Einwände gegen die an der dortigen medizinischen Fakultät entwickelten Behandlungen der Pocken erhoben hatte, und zwar mit der Begründung, sie seien gottlos.
Feyra blätterte in der Bibel und starrte die Buchstaben an, bis die schwarz gedruckten Sätze verschwammen und die vergoldeten Figuren am Rand vor ihren Augen zu tanzen begannen, als wäre ihnen Leben eingehaucht worden. Endlich fand sie in einem Buch namens Offenbarung das, was sie suchte. Dort ritten sie, als wollten sie von den Seiten springen. Ein weißes Pferd, ein rotes, ein schwarzes und ein fahles, und auf jedem saß ein grinsendes Skelett.
Die vier apokalyptischen Reiter.
Es fiel ihr schwer, das Latein zu entziffern, und sie war über den ersten Satz nicht hinausgekommen, als sie sich fröstelnd an die letzten Worte ihrer Mutter erinnerte, die diese im Delirium gestammelt hatte.
»Komm und sieh!«, las sie laut. »Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der darauf saß, hatte eine Waage in der Hand. Und ich hörte eine Stimme mitten unter den vier Gestalten sagen: Ein Maß Weizen für einen Silbergroschen und drei Maß Gerste für einen Silbergroschen; aber dem Öl und Wein tu keinen Schaden!«
Die Worte ergaben für Feyra jetzt ebenso wenig Sinn wie damals, als ihre Mutter sie auf dem Sterbebett hervorgestoßen hatte. Aber als sie weiterlas, schluckte sie hart, weil sie zum ersten Mal verstand, was ihr Vater nach Venedig befördert hatte, denn das schwarze Pferd brachte die Pestilenz. Mit wachsender Verwirrung las sie, wie die Große Bedrängnis aussah, vor der ihre Mutter gewarnt hatte. Vor dem schwarzen Pferd kam das rote, der Bote von Feuer und Blutvergießen.
»Als das Lamm das zweite Siegel auftat«, las Feyra, »hörte ich die zweite Gestalt sagen: Komm und sieh! Und es kam heraus ein zweites Pferd, das war feuerrot.«
Dann gab es noch ein weißes Pferd, einen Eroberer mit einem Bogen und einer Krone, der Krieg führen wollte. Zuletzt folgte das fahle Pferd, grünlich wie Galle, das Tod, Verzweiflung und das Ende der Welt brachte.
Sie klappte das Buch zu und presste die Deckel zusammen, als könne sie dadurch die darin enthaltenen Schrecken fortschließen. Dann kniff sie die brennenden Augen zu und versuchte sich daran zu erinnern, was Nurbanu genau gesagt hatte. Sie hatte gesagt, dass vier Pferde kommen würden, nicht nur eines. Vier Pferde, wie das bronzene Quartett mit den auskeilenden Hufen, das sie auf der Basilika des Dogen
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