Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
gesehen hatte.
In der Bibel folgte das fahle Pferd auf das schwarze, aber als sie den von ihrem Körper gewärmten Kristallreif genauer betrachtete, stellte sie fest, dass auf ihrem Ring das rote Pferd direkt nach dem schwarzen kam, dann das weiße und zuletzt das grünlichfahle Tier.
Feyra verwünschte sich dafür, dass sie sich nicht an die Zeichen erinnerte, die ihre Mutter sie gelehrt hatte, und die Botschaft nicht an den Dogen weitergeleitet hatte, wie sie es geschworen hatte. Nachdem ihr Freund Tod die Stadt betreten hatte, hatte sie ihre Mission als gescheitert betrachtet. Das schwarze Pferd war aus seinem Stall entkommen, und sie hatte keinen Sinn darin gesehen, danach noch die Tür zu schließen. Aber jetzt begann sie sich von einer dumpfen Furcht erfüllt zu fragen, ob weiteres Unheil folgen würde.
Mit Annibale an ihrer Seite hätte sie die Prophezeiungen vielleicht als Hirngespinste abgetan, aber jetzt überlegte sie, was für Plagen noch von Konstantinopel über das Meer in diese leidgeprüfte Stadt geweht werden konnten. Der Schiffsverkehr war noch immer eingestellt, die Besatzung der Il Cavaliere davongesegelt, und sie war der einzige noch lebende Mensch von diesem Schiff, der sich noch in Venedig aufhielt. Das teuflische Unternehmen musste beendet sein. Und doch wünschte sie, die in Schwarz und Weiß niedergeschriebene schreckliche Vision nie gesehen zu haben. Sie hatte in ihr das furchtbare Gefühl ausgelöst, dass es vielleicht noch nicht vorüber sei.
In dieser Nacht ging Feyra nicht zu Bett. Sie saß da und betrachtete das Buch auf dem Kaminsims, als könnten sich die Reiter aus den Seiten lösen und zum Leben erwachen. Als sie die Glocke zur Matutin läuten hörte, huschte sie zur Kirche hinüber und legte das Buch auf die Schwelle.
Die Badessa, die vor dem Morgengrauen die kleine Kirche San Bartolomeo verließ, um die Schwestern zum Dormitorium zurückzuführen, wäre fast auf die Bibel getreten. Sie hob sie auf, wobei ihre alten Knochen knirschten, und gestand sich mit einem tiefen Seufzer ihr Versagen ein. Dann ging sie zu Bett, um vor der Prim noch ein paar kostbare Stunden zu schlafen, und schüttelte vor Kummer über ein verlorenes Schaf den Kopf.
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Im Lauf der nächsten Tage versuchte Feyra die Reiter zu vergessen. Sie beschloss stattdessen, etwas gegen die einzige der Plagen zu unternehmen, die sie kannte. Sie würde ihr und Annibales Wissen und ihrer beider Erfahrung nutzen, um ein Mittel gegen die Pest zu entwickeln.
In Konstantinopel hatten die gelehrtesten Ärzte oft einen Trank hergestellt, der Theriak genannt wurde. Das Allheilmittel zählte zu den komplexesten Formen der Medizin und war in so vielen Zusammensetzungen zu finden, wie es Zwecken diente. Aufgrund der zahlreichen Zutaten konnten es sich meist nur die Wohlhabendsten leisten, und nur die kompetentesten Ärzte wagten sich an die Herstellung.
Doch Feyra hatte keine Angst. Sie brauchte eine Beschäftigung. Sie holte ihren Medizingürtel und inspizierte die Kräuter, Salben und Pulver. Einige stammten aus Konstantinopel, andere aus Venedig, mit denen sie ihre Vorräte ergänzt hatte, und einige neue Schätze waren darunter, die sie hier auf der Insel in den dunkelsten Ecken des Schlehdornwaldes außerhalb der Mauern gefunden oder aus den seltsamen Pflanzen zusammengemischt hatte, die in der salzigen Erde der Marschen wuchsen.
Sie verfolgte zwei Ziele: die bereits Erkrankten zu heilen und zu verhindern, dass die Gesunden von der Seuche befallen wurden. Ihre Arznei musste sowohl Fieber senken als auch die Beulenbildung reduzieren sowie das Blut reinigen, und vor allem musste es Hoffnung spenden. Jeder, der sie nahm, musste fest daran glauben, dass der Inhalt jeder kleinen Flasche ihm das Leben zurückgeben würde. Sie beschloss, das Mittel Theriaca zu nennen, die venezianische Version des vom Griechischen abgeleiteten Originalwortes. Sie war damit sehr zufrieden, aber bislang war ein Name alles, was sie hatte.
Sie begann mit der Arbeit.
Ihr Haus verwandelte sich in ein Alchemielabor, das mit Flaschen, Destillierkolben, Kesseln und Tiegeln vollgestopft wurde. Obwohl sie versuchte, sich zu konzentrieren, blickte sie bei jedem Geräusch, jedem Türknarren in der Hoffnung auf, er wäre es, der gekommen war, um ihr mitzuteilen, dass seine grässliche Mutter fort war.
Aber die Tage wurden zu Wochen und die Wochen zu einem Monat, und noch immer sah sie Annibale nur im Krankenhaus. Soweit sie wusste, besuchte er Palladio
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