Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
weiteten sich und fielen dann zu. Sie sprach mit geschlossenen Augen. »Nach Venedig natürlich.«
Feyra beugte sich zu ihrer Herrin hinunter und legte die Wange an ihre Lippen. Das Wort Mutter vermochte sie noch nicht zu denken. Die Valide Sultan atmete flach, aber regelmäßig. Sie war noch am Leben, aber Feyra wusste, dass es nichts brachte, sie zu wecken. Der Schreck wäre für ihr gemartertes Herz wahrscheinlich zu viel.
Feyra blickte aus dem Fenster über das Meer hinweg, das nach Venedig führte. Die Sonne stand hoch am Himmel, Boote drängten sich auf der Mündung des Bosporus. Durch irgendeine Alchemie hatte sich das lapislazulifarbene Wasser in Gold verwandelt. Kleine schwarze Boote verdunkelten das Licht. Einige fuhren durch die Meerenge nach Pera und zurück, andere segelten zu ferneren Ufern. Wie herzlos, dachte Feyra. Wie kann weiter Handel betrieben werden, wie können Leute immer noch Seide und Salz und Safran benötigen, während sich hier ein Menschenleben dem Ende zuneigt?
Feyra hatte an vielen Sterbebetten gesessen und wusste, dass die Todgeweihten ihre letzten Worte klar verständlich hervorstießen, wenn sie noch etwas zu sagen hatten, und dann ihr Leben aushauchten, auch wenn die osmanischen Geschichtenerzähler etwas anderes behaupteten. Feyras einzige schwache Hoffnung bestand darin, dass Nurbanu noch einmal irre reden würde, wenn ihr Körper sich ein letztes Mal verzweifelt gegen die Sporen des St.-Bartholomäus-Baums zur Wehr setzte, bevor das Gift sie tötete. Aber sie konnte nicht damit rechnen, dass Nurbanu so klar im Kopf sein würde wie gerade eben. Feyra war dankbar dafür, dass ihr die Zeit geblieben war, die Geschichte ihrer Mutter – und ihre eigene – zu hören, aber jetzt musste sie wissen, was ihre Herrin von ihr verlangte und was es mit dem Ring auf sich hatte.
Sie drehte ihn im Morgenlicht am Finger. Er war schön und zeugte von großer Handwerkskunst. Der glasklare Kristall wies eine Art farbiges Muster auf. Als sie genauer hinsah, stellte sie fest, dass die Farben kein Muster bildeten, sondern winzige Pferde darstellten, vier an der Zahl, die um den Reif herumgaloppierten. Sie inspizierte sie eingehend. Die Tiere waren kunstvoll in das Glas eingearbeitet, mit einem Werkzeug, das nicht größer sein konnte als eine Nadelspitze. Jedes Pferd schimmerte in einer anderen Farbe: Eines war schwarz, eines rot, eines weiß und eines grünlich wie Gallenflüssigkeit. Obwohl sie keine Stunde zuvor in der Samahane erwogen hatte, mit ihrem Vater zusammen zu fliehen, wusste Feyra jetzt, dass sie ihre Patientin nicht verlassen konnte. Sie musste erst alles wissen. Und sie musste nicht lange warten.
»Feyra, Feyra …« Es war kaum mehr als ein Wispern.
Feyra griff erneut nach der Hand der älteren Frau. »Komm und sieh.« Der Atem roch jetzt faul, als kröche der Tod aus Nurbanus Mund. »Sie kommen!«
»Wer?«, fragte Feyra.
»Die vier Reiter.«
Nurbanus Geist musste sich verwirrt haben. Sie bezog sich auf den Ring, den sie Feyra gegeben hatte, und vielleicht auf die vier Pferde, die sie von Paros fortgebracht hatten. Feyra sprach beruhigend auf sie ein. »Nein, nein, sie kommen nicht.«
»Doch, doch … ich sehe sie. Sie bringen den Tod!« Die meerblauen Augen starrten jetzt blicklos ins Leere.
»Nein, sie kommen nicht«, versuchte Feyra ihr zu versichern. »Ich kann bis Pera sehen, und dort sind nur wenige Boote. Es ist auch niemand im Raum und niemand an der Tür.«
»Sie kommen nicht zu mir«, protestierte die Sterbende. »Sie reiten nach Venedig! Die Große Bedrängnis reitet nach Venedig. Sie galoppieren auf weißen Pferden über die Wellen, aber nur eines von ihnen ist weiß, die anderen haben andere Farben.«
Feyra sah erneut auf den Ring hinab, betrachtete die zarten Gravuren. Ein Pferd war weiß eingefärbt. »Aber nur eines von ihnen ist weiß, die anderen haben andere Farben.« Vielleicht sprach ihre Herrin ja doch nicht im Delirium, dachte Feyra.
»Was heißt das? Was bringen die Pferde?«
»Komm und sieh, komm und sieh, komm und sieh!«
Feyra beugte sich so nah zu ihr wie möglich. »Ich bin hier, Herrin.«
Plötzlich richtete sich Nurbanu kerzengerade auf und sprach mit einer Kraft, die ihrem geschwächten Körper kaum noch zuzutrauen war. »Und als das Lamm das dritte Siegel auftat, hörte ich die dritte Gestalt sagen: Komm und sieh! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der darauf saß, hatte eine Waage in der Hand. Und ich hörte eine Stimme
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