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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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toten Mutter einen Vertrauensbruch begehen. Oder sie konnte schweigen und alles für sich behalten. Sie hatte immer noch keine Entscheidung getroffen, als sie ihren Platz gegenüber von ihrem Vater am Tisch einnahm. Nur eines wusste sie mit Sicherheit. Sie würde Konstantinopel nicht verlassen. Wenn ihre Mutter tot war und ihr Vater fortging, war die Stadt alles, was sie noch hatte.
    Feyra musterte Timurhan eindringlich. Er wirkte beunruhigt. Sie betrachtete sein gebräuntes, von den vier Winden der vier Jahreszeiten auf dem Meer wettergegerbtes Gesicht, den eingeölten, spitz zulaufenden, jetzt grau gesprenkelten Bart und die Augen, die so bernsteinfarben leuchteten wie ihre. Er saß, wie er es immer tat, wenn er zu Hause war, am Kopfende des polierten Tisches vor dem holzvergitterten Fenster, das Kreuze und Rauten aus Licht auf seine Gestalt warf. Er schwieg und aß nur wenig mehr als sie.
    Feyra respektierte ihren Vater, gehorchte ihm, wie es alle guten Töchter tun sollten. Sie liebte ihn und, was noch wichtiger war, sie mochte ihn. Aber sie fürchtete sich auch ein wenig vor ihm.
    Er war streng und wachte eifersüchtig über ihre Keuschheit, weswegen er auch ihre Art, sich sorgsam zu verhüllen, guthieß. Er schlug sie, wenn sie ihm die Stirn bot – woraus sie ihm keinen Vorwurf machte, denn welcher Vater schlug seine Töchter nicht? –, und küsste sie, wenn er mit ihr zufrieden war. Aber in der letzten Zeit hatte sich eine kaum merkliche Veränderung eingeschlichen. Wenn sie gelegentlich beim Essen eine Bemerkung machte oder von ihrer Arbeit sprach, änderte sich etwas so unbemerkt wie der Gezeitenwechsel, wenn das Wasser in die entgegengesetzte Richtung zu fließen begann. Sie nahm leisen Respekt in den Augen ihres Vaters wahr und darüber hinaus auch einen Hauch von Angst.
    Die Quelle ihrer neuen Macht hieß Wissen. Ein oder zwei Mal fragte er sie bezüglich medizinischer Angelegenheiten nach ihrer Meinung, und manchmal nahm er sie sogar gegenüber seiner Besatzung in Schutz. Erst letzte Nacht hatte er ihr beim Abendessen einige Fragen über die Pflege eines Kranken gestellt und wissen wollen, wie man verhinderte, dass die Krankheit sich ausbreitete, wenn der Patient auf engem Raum mit anderen lebte. Aber er tat es widerwillig. Sie merkte ihm an, dass ihm die Veränderung nicht gefiel, dass er das Gefühl hatte, etwas wäre verloren gegangen.
    Feyra beschloss, ihrem Vater etwas zu erzählen, was keinen Vertrauensbruch gegenüber ihrer Mutter darstellte, ihr aber vielleicht dabei helfen würde, zu entscheiden, was sie tun sollte. »Meine Herrin ist tot.«
    Die Worte rollten in der Stille zwischen ihnen hin und her wie auf den Tisch geworfene Murmeln.
    Die Augen ihres Vaters flackerten leicht. »Das tut mir leid«, sagte er.
    Diese wenigen Worte verrieten Feyra, dass er bereits Bescheid wusste. Und noch mehr – es tat ihm wirklich leid, er war traurig, weil er sie immer noch liebte. Das reichte aus. Sie ließ ihren Teller klirrend fallen und sank neben ihrem Vater auf die Knie. »Vater, was soll ich tun? Am Ende redete sie irre, sagte alle möglichen seltsamen Dinge – soll ich morgen dorthin zurückkehren?«
    Er umschloss ihr Gesicht. »Feyra. Ich trete morgen eine Reise an. Und du wirst in den Harem zurückkehren, aber jetzt als Kadin des Sultans.« Er vermochte ihr nicht in die Augen zu sehen.
    Das Blut rauschte in Feyras Ohren. Tausend widersprüchliche Gefühle schlugen über ihr zusammen, und das vorherrschende davon war Wut. All die Mühen, die sie Tag für Tag auf sich genommen hatte, seit sie erwachsen war, waren umsonst gewesen.
    Der Sultan hatte durch den Schleier hindurchgesehen.
    Dass sich die Geschichte ihrer Mutter wiederholen würde, war schon schlimm genug, aber Feyra erwartete ein weitaus grausameres Schicksal: Sie würde die Frau ihres Bruders werden, ein Verbrechen gegen die Natur und ihre Weiblichkeit.
    »Nein, Vater«, erwiderte sie fest und bat dann mit weicherer Stimme: »Das wirst du nicht zulassen, nicht wahr?«
    Er entspannte sich und sah sie an, als sich ihm die Lösung des Problems erschloss. Er hatte dem Sultan den Treueeid geleistet, um seine geliebte Tochter behalten zu können. Wenn er Feyra sowieso verlieren würde, was nutzte ihm dann sein Eid oder sein Leben? Er würde Feyra nehmen, sie zu seinem Schiff bringen und fortsegeln – ohne Ladung, irgendwohin, wohin ihm der Sultan nicht folgen konnte.
    Vielleicht würden sie nach Paros gehen, einen Ort, der für ihn immer das

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