Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
den Vater dieses Sultans verloren. Er hatte sich der Seefahrt verschrieben, war bei Lepanto zu Ruhm und Ehre gelangt und hatte seine Flotte verloren. Das Einzige, was er in seinem Leben hatte behalten können, war Feyra, und nun würde er sie auch noch verlieren. Die Ironie des Ganzen entging ihm nicht. Nach der Geburt seiner Tochter hatte er im Gegenzug dafür, sie mit nach Hause nehmen und in Frieden in der Stadt großziehen zu dürfen, Selim und seinen Erben die Treue geschworen. Und genau dieser Schwur hatte zur Folge, dass er jetzt und hier in diesem Raum stand und sich auf eine Mission begeben musste, die ihn für immer von Feyra trennen würde. Endlich ergriff er das Wort, stellte die Frage, um die alle seine Gedanken kreisten.
»O Licht meiner Augen und Freude meines Herzens, was wird mit Feyra geschehen?«
»Ah, deine kluge Tochter. Ja, sie ist sehr klug.« Der Sultan dachte an seine aufschlussreiche Unterredung mit dem Kislar Aga zurück. »Sie weiß bereits einiges, was sie nicht wissen sollte.«
Timurhan streckte beide Hände vor, als wolle er einen Schlag abwenden. »Herr, ich weiß, dass sie zu gebildet ist, aber wenn Ihr sie gütigerweise in den Diensten Eurer Mutter belassen wollt …«
Der Sultan schnitt ihm das Wort ab. »Meine Mutter hat ihre Seite in diesem Krieg gewählt, und deswegen braucht sie deine Tochter nicht mehr.«
»Herr …«
»Beruhige dich. Ich missbillige das medizinische Wissen deiner Tochter nicht, das ich nur weiterempfehlen kann. Nein, eine kluge Frau kann sehr hilfreich sein. Aber sie ist auch schön, eine Tatsache, die sie, wie ich bemerke, um jeden Preis zu verbergen versucht.«
Timurhan stellte die nächste Frage voller Angst. »Wie meint Ihr das?«
»Ich meine, dass ich mich zum Dank für den Dienst, den du meinem Reich erweist, persönlich um sie kümmern werde. Ich habe beschlossen, Feyra die große Ehre zuteilwerden zu lassen, sie als meine Kadin in meinen Harem aufzunehmen.«
Timurhan saß in der Falle. Wie konnte er dem Sultan gestehen, dass Feyra seine Halbschwester war; dass er, ein einfacher Schiffskapitän, einst bei Murads Mutter gelegen hatte? Er würde an Ort und Stelle niedergestreckt und Feyra höchstwahrscheinlich ebenfalls ermordet werden. Sollte er sich verneigen, die Ehre annehmen, sich auf die Todesmission begeben und hinnehmen, dass Feyra zwar in Sicherheit wäre, sich aber täglich ihrem Bruder würde hingeben müssen?
Die Wahl war eigentlich gar keine. Er verbeugte sich.
Als er zur Tür ging, sah ihm der Sultan lächelnd nach. Timurhan hatte ihn unterschätzt, wie es so viele Menschen taten. Feyra war nicht die Einzige, die etwas wusste, was sie nicht wissen sollte.
Er wusste, dass Feyra seine Schwester war, und es störte ihn nicht.
Timurhan ging durch die Gänge und Höfe des Topkapi-Palastes, wohl wissend, dass er das alles nie wieder sehen würde. Als er am Harem vorbeikam, fragte er sich wie so oft, ob sie sich darin aufhielt. Die Tür war stets geschlossen und wurde von schwarzen Eunuchen bewacht.
Nur heute nicht.
Sowohl die äußeren als auch die inneren Türen standen offen. Zögernd, als wäre schon der Blick eines Mannes an diesem Ort ein Eindringling, spähte er quer über einen kleinen Hof zu einer weiteren geöffneten Tür. Hinter dieser zweiten Tür lag eine Frau in ihren Kissen. Sie regte sich nicht, ihre Haut war fleckig, und sie schien tot zu sein. Aber während er sie ansah, schlug sie die Augen auf. Augen, die so blau waren wie das Meer.
Plötzlich befand er sich einundzwanzig Jahre in der Vergangenheit, auf einem Maskenball in Paros, wo ebendiese Augen ihn verzaubert hatten. Diese Augen hatten in die seinen geblickt und ihn überredet, sie fortzubringen, mit ihr zu seinem Schiff zu reiten und nach Konstantinopel zu segeln. Jetzt blickte er wieder in diese Augen, einen letzten Moment lang, und dann, als er erkannte, dass er Zeuge eines Endes und nicht eines Anfangs war, wandte er sich ab.
5
Feyra konnte sich hinterher nicht mehr daran erinnern, was sie an diesem Abend gegessen hatten.
Sie hatte die verschiedenen Speisen zubereitet und zum Tisch getragen. Sie hatte die Messinglampen angezündet, als die Sonne unterging, und den Tisch mit Messern und Bechern gedeckt. Sie hatte einige Bissen zum Mund geführt, aber nichts geschmeckt.
Während der Zubereitung des Essens, hatte sie wieder und wieder über die Wege nachgegrübelt, die ihr offen standen. Sie konnte ihrem Vater alles erzählen und so gegenüber ihrer
Weitere Kostenlose Bücher