Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Herzen Hunderte bemannter hölzerner Schiffsrümpfe, Spiere und Maste, die wie feindliche Lanzen gen Himmel ragten und ihre Flucht verhinderten. Wie sollte sie in Erfahrung bringen, welches Schiff ihr Vater nehmen würde? Ihm wurde für jede Reise ein anderes zugeteilt. Und was, wenn er schon abgelegt hatte?
Verzweifelt lief sie durch den Hafen und las die bombastischen Namen, die Männer ihren Schiffen gaben – törichte, vor Siegesgewissheit strotzende Prahlereien. Sollte sie sich auf gut Glück an Bord von einem davon schleichen und hoffen, dass sich die Besatzung als nicht gar zu übel erweisen würde, oder lieber nach Hause zurückkehren, am Morgen in ihrem eigenen Bett erwachen und sich in den Harem schaffen lassen? Feyra war mit den Vorgehensweisen von Männern vertraut, sie wusste, welches Schicksal sie als einzige Frau an Bord eines fremden Schiffes erwartete, wenn ihr Vater nicht da war, um sie zu beschützen. Aber war das schlimmer als das Dasein im Harem? Sie würde nur einem Mann statt zwanzig als Spielzeug dienen, aber dieser Mann war ihr Bruder und überdies ein wahres Monster. Sie hatte eigentlich gar keine Wahl.
Gerade als sie kehrtmachen wollte, fiel ihr Blick auf ein Schiff, das sich von den anderen unterschied. Mit seinen gerade geschnittenen statt gekrümmten Deckplanken und dem üppig verzierten Vorderdeck wirkte es fremdländisch, und am Bug prangte in gemalten Goldbuchstaben der Name Il Cavaliere. Nurbanu hatte es nicht versäumt, ihr das Lesen beizubringen – der venezianische Name bedeutete schlicht und einfach »der Reiter«.
Feyra verbarg sich hinter einem Fässerstapel und beobachtete das Treiben auf dem Schiff. Der hölzerne Landungssteg war herabgelassen, und die an der Hafenmauer befestigten Fackeln beleuchteten das Kommen und Gehen. Sie verfolgte, wie zwei Seeleute, Männer ihres Vaters, mit Ausrüstungsgegenständen und Vorräten beladen zwischen einem Lagerhaus am Kai und dem Schiff hin und her eilten. Flüchtig spielte sie mit dem Gedanken, sich zu erkennen zu geben und zu verlangen, zur Kabine des Kapitäns gebracht zu werden. Aber der Umstand, dass er sich in der Gesellschaft des Kislar Aga befinden würde, hielt sie davon ab.
Stattdessen studierte sie den Rhythmus, dem die Seemänner folgten. Schiffe waren seit ihrer frühesten Kindheit ihr Spielzimmer gewesen. Sie war von den Fässern und Kisten fasziniert, die sie dort vorfand, und hatte zahlreiche Laderäume erforscht. Normalerweise gelangte man durch eine Luke an Deck in den Frachtraum, und sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals einen gesehen zu haben, der diesem hier glich. Bei diesem venezianischen Schiff lag der Zugang zum Laderaum an der Seite, sodass die Fracht direkt vom Dock aus durch die Doppeltüren knapp oberhalb der Wasseroberfläche eingeladen werden konnte. Eine hölzerne Planke führte geradewegs in die dunkle Höhle.
Wenn Feyra die Konkubinen im Harem behandelt hatte, hatte sie gerne gesagt, die Lösung eines Problems sei oft die einfachste. So verhielt es sich auch hier. Sie wartete einfach und huschte dann in einem unbeachteten Moment wie ein Schatten die Holzbrücke hoch und in den dunklen Bauch des Schiffes.
Sie ließ sich in den düsteren, einer Gruft ähnelnden Raum fallen, rollte sich hinter einigen Getreidesäcken zusammen und machte es sich so bequem wie möglich, um zu warten. Innerhalb der nächsten Stunde wurden weitere Säcke auf sie geworfen, bis sie sich kaum noch rühren konnte und zu schwitzen begann. Ihr Medizingürtel, ihr alter Freund, den sie so lange getragen hatte, dass er sich wie ein Teil ihres Körpers anfühlte, grub sich schmerzhaft in ihre Taille und ihre Rippen. Sie überlegte, was für Folgen es haben würde, wenn eine der Flaschen zerbrach und die Scherben sich in ihre Haut bohrten oder, schlimmer noch, wenn der Inhalt in ihre Haut sickerte. Diese Mittel wirkten heilend, wenn man sie in der richtigen Menge anwandte, in der falschen Dosis konnten sie jedoch großen Schaden anrichten.
Außerdem kratzte die raue Sackleinwand an ihrem Gesicht. Eine neue Angst wurde geboren: die, dass sie ersticken könnte. Also begann sie während der kurzen Abwesenheit der Seeleute ihr Gewicht zu verlagern und sich ein Luftloch zu schaffen. Im Schein einer einzelnen, an einem Haken hängenden Lampe erkannte sie allmählich, dass sie fast erdrückt wurde, weil alle Vorräte für die Reise auf einer Seite des Laderaums aufgestapelt wurden. Im vorderen Teil des Raums war ein Bereich mit
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