Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Paradies bleiben würde. Er konnte immer noch den Duft der Zitronenbäume riechen, an denen er in jener warmen Nacht vorbeigekommen war, als er hinter der schönen Cecilia Baffo her zum Meer hinunterritt. Es hatte ihn entzückt, dass sie schneller war als er. Er sah sie wieder vor sich, wie sie sich umdrehte und ihn anlachte, verängstigt und abenteuerlustig und krank vor Liebe zugleich.
Er blickte auf das Gesicht hinab, das er jetzt zwischen den Händen hielt, ein unvergleichliches Gesicht, das er selten unverhüllt zu sehen bekam. Feyra, ihrer Mutter so ähnlich und doch so anders als sie. An der Hand, die die seine hielt, erkannte er Cecilias Ring. Er hatte so viele Fragen und sie so viel zu erzählen, aber jetzt war keine Zeit dafür. »Ich kann dich nicht gehen lassen. Pack deine Sachen. Wir müssen noch vor Sonnenuntergang von hier fort.«
Feyra sprang auf, holte ihren Umhang und schnallte ihren Medizingürtel um. Es dauerte nur einen Moment. »Fertig«, sagte sie. Heute Abend bestand keine Notwendigkeit, sich zu verhüllen, die lästige, nutzlose Verkleidung anzulegen. Sie sah ihren Vater an, und sie tauschten ein seltenes Lächeln.
Timurhan öffnete die Tür, und ihr Lächeln erstarb.
Vor der Tür stand der Kislar Aga und verdeckte das ersterbende Licht mit seiner massigen Gestalt.
»Kapitän Yunus Murad«, sagte er mit seiner seltsam hohen Stimme. »Ich soll Euch zu Eurem Schiff eskortieren, wo Eure Besatzung Euch erwartet. Dame …« Er wandte sich an Feyra. »Geht zu Bett. Meine Männer werden vor Eurer Tür wachen und Euch im Morgengrauen in den Harem bringen.«
Feyra blieb nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden; ihre Wange so fest gegen die ihres Vaters zu pressen, dass sich ihre Tränen vermengten, und zu winken, bis er und der Kislar Aga um die Ecke gebogen waren. Es gelang ihr, sich auf den Beinen zu halten, bis er außer Sicht war, dann brach sie vor den Füßen der Wächter auf dem Pflaster zusammen.
Dem Pflaster, auf dem sie einst einen Kreisel gedreht hatte.
6
Feyra lag im Dunkeln und drehte an dem Kristallring herum.
Sie wurde nicht länger von Unentschlossenheit gemartert, sondern wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie wartete nur den richtigen Moment ab. Sie wartete und drehte dabei den Ring an ihrem Finger, als zähle sie die Herzschläge, bis sie endlich handeln konnte.
Der Ring befand sich erst seit vier Stunden in ihrem Besitz, und trotzdem fühlte er sich bereits wie ein Teil von ihr an. Sie drehte den Kristallreif immer ein Viertel weiter, sodass jedes Mal ein anderes Pferd zuoberst erschien – schwarzes Pferd, weißes Pferd, rotes Pferd, fahles Pferd. Sie fragte sich, ob ihre Mutter dieselbe Angewohnheit gehabt hatte.
Ihre Mutter.
Nurbanu war Feyra in allem, nur nicht dem Namen nach, eine Mutter gewesen. Sie würde um sie trauern, wenn der Schock abgeklungen war, aber sie hatte nicht das Verlangen, ihre Beziehung in ein anderes Licht zu rücken. Es hatte gegenseitige Liebe und Respekt gegeben, Umarmungen, viele miteinander verbrachte Stunden – mehr, als irgendeine andere Tochter erwarten konnte. Feyra quälte sich nicht mit ungesagten Worten herum. Alles Notwendige war in jenen letzten schrecklichen Stunden gesagt worden, der Rest unausgesprochen zwanzig Jahre davor. Feyra bedauerte nur, dass ihre Mutter ihr nicht mehr über die Reiter hatte erzählen können. Über das schwarze Pferd, das ihr Vater nach Venedig bringen sollte, und darüber, was sie selbst zu tun hatte.
Draußen auf der Straße trat Stille ein. Es wurde Zeit.
Feyra erhob sich so geräuschlos wie eine Katze. Sie brauchte sich nicht anzukleiden, denn sie hatte sich gar nicht erst ausgezogen, sie legte aber einen Schleier an, bevor sie ihren Hut aufsetzte. Jetzt verbarg sie nicht ihre Schönheit, sondern ihre Identität.
Behutsam öffnete sie die Fensterflügel und die filigranen Läden, hinter denen sie an diesem Morgen gestanden hatte. Der Kislar Aga hatte es nicht für nötig befunden, an der Rückseite des Hauses Wachposten aufzustellen. Sie ließ sich auf das Dach des Schuppens gleiten, in dem die Nachbarn nachts ihre Ziegen einschlossen. Die elenden Geschöpfe begannen zu meckern, und sie atmete mit einem unwillkürlichen entsetzten Keuchen ihren Gestank ein, ehe sie in die dunkle Gasse unter ihr hinunterkletterte. Sie schlich zur Straßenecke, sah, dass die Straße verlassen dalag, und rannte, so schnell sie konnte, zu den Docks hinunter. Dort erblickte sie mit bis zum Hals klopfendem
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