Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Fliesen glich. An den Schotten hingen Bilder, und es gab sogar einen Kohleofen, mit dem man im Winter heizen konnte. Aber der Duft von Waldmeister und Weihrauch, der in der Luft hing, konnte den Gestank von Fäulnis und Verwesung nicht ganz überdecken. All dieser Luxus nutzte ihrem Vater jetzt nichts.
Auf dem Schreibtisch am vorderen Ende der Kabine entdeckte Feyra einen Kristallkrug mit Wasser und einen Zinnkrug, der Wein enthielt. Sie goss etwas Wein in das Wasser, um es von etwaigen Verunreinigungen zu säubern, und sah zu, wie er sich wie eine Blutwolke in der klaren Flüssigkeit ausbreitete. Dann griff sie nach einem Tintenschwamm, riss das fleckige Löschpapierblatt ab und tauchte den Schwamm in das Wasser. Sie ging zu ihrem Vater hinüber, benetzte mit dem Schwamm seine Lippen und drückte ihn zusammen, bis etwas Flüssigkeit in seinen halb offenen Mund rann, was ihm ein leises Husten entlockte – ein gutes Zeichen. Zuletzt wischte sie ihm mit dem Schwamm Gesicht und Stirn ab. Ihre Behandlung schien Timurhan gut zu tun, und sie meinte, er hätte etwas Farbe bekommen.
Im Gegensatz zu ihrem früheren Gefängnis fiel in diesen Raum viel natürliches Licht – durch die Bullaugen zu beiden Seiten und durch den Gitterrost im Quarterdeck über ihnen. Die Fenster waren so gut verglast, dass sie von dem draußen tobenden Sturm kaum etwas hörten, aber der Regen verwandelte jedes Bullauge in ein Tamburin. Sie blickte ihren Vater an. Er bekam von dem Unwetter nichts mit; war in seinen eigenen Kampf mit dem Fieber verstrickt und in einen unruhigen Schlaf gefallen. Sie konnte kaum etwas anderes tun, als abzuwarten.
Auf dem Schreibtisch des Kapitäns drehte sich ein hölzerner Globus um seine Achse, als wären alle himmlischen Mächte fortgeweht worden und hätten den vier Winden die Vorherrschaft überlassen. Eine leere Weinflasche rollte auf dem Holzboden hin und her. Nach einer Weile konnte Feyra das monotone Geräusch nicht mehr ertragen, sie hob die Flasche auf und stellte sie auf den Tisch.
Dann setzte sie sich auf den Stuhl des Kapitäns, spähte durch das Bullauge und wischte immer wieder das Kondenswasser ihres Atems weg. Was sie sah, bewirkte, dass sie sich zum zweiten Mal an diesem Tag fragte, ob sie gestorben und ins Jenseits eingegangen war. Vor ihr erhob sich eine auf dem Wasser erbaute schimmernde Zitadelle aus dem wabernden Nebel; mit weißgrauen, gen Himmel ragenden Türmen und elfenbeinfarbenen Palästen, die sich am Wasser entlangzogen. Selbst der strömende Regen konnte der eigenartigen Schönheit dieses Ortes keinen Abbruch tun. Er war weitläufig angelegt, und der Hafen öffnete sich in einen großen, von steinernen Bögen und Säulen umgebenen Platz. Ein hoher Turm überragte seine Umgebung, und eine gedrungene goldene Kirche, deren bunte Farben im Regen wie Juwelen glänzten, kauerte in einer Ecke des Platzes.
Während sie aus dem Fenster starrte, glitt das Schiff längsseits an zwei riesige Marmorsäulen heran, die hoch in den Himmel ragten, und Feyra spürte das Rasseln der Kette, als sie erneut den Anker warfen. Sie spähte nach oben, indem sie durch die Regenmassen blinzelte. Auf einer Säule thronte ein ungläubiger Heiliger, auf der anderen eine Kreatur, die zu fürchten man sie von ihrer Kindheit an gelehrt hatte: ein geflügelter Löwe mit einem Buch zwischen den Tatzen.
Sie war in Venedig.
Ein Geräusch vom Bett hinter ihr veranlasste sie, sich umzudrehen. Sie sah, wie ihr Vater, der selbst in Extremsituationen noch Seemann bis ins Mark war, sich mühsam auf die Ellbogen stützte. Er hatte ebenfalls den Anker gehört und wusste, dass die Stunde gekommen war. »Feyra«, krächzte er vor Anstrengung keuchend. »Der Tod kommt …«
Sie verstand seine Fieberfantasien besser, als er ahnte. Mit einem Nicken wandte sie sich wieder zum Fenster und sah zu, wie der Holzsteg herabgelassen wurde. Ihr Blickfeld war jetzt eingeschränkt, aber sie blinzelte über den Steg hinweg zwischen den Zwillingssäulen hindurch zu dem großen, mit Wasser bedeckten Platz hinüber. Trotz dieser Sintflut waren viele Bürger unterwegs, sie stapften so unbeteiligt durch ihre eigenen Spiegelbilder, als wären derartige Überschwemmungen an der Tagesordnung.
Sie wechselte zum nächsten Bullauge und starrte nach unten, als sie das Kratzen und Poltern hörte, mit dem der Sarkophag oben an den Steg gezerrt und abgestellt wurde. Voller Furcht verfolgte sie, wie die Nieten gelöst und die Myrtenbüschel entfernt und
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