Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
wusste sie auch, warum ihr Vater sie vor einer Woche beim Abendessen über die Isolierung eines Kranken an Bord eines Schiffes ausgefragt hatte. Sie war es gewesen, die ihm zu dem Vorhang und dem Musselinstück geraten, und einen kleinen, abgetrennten, mit Myrte behängten Bereich vorgeschlagen hatte.
Sie hatte Tod in diesen Sarg gebracht.
»Mädchen?«
»Ja, Tod?«
»Denkst du manchmal über die Dschanna nach? Was meinst du, wie es dort ist?«
Feyra überlegte einen Moment lang. Diese Frage war ihr im Harem schon des Öfteren gestellt worden – die Sterbenden richteten ihre Gedanken immer auf das, was nach dem Leben kam. Die Dschanna, das Paradies, war ihm versprochen worden, und es überraschte sie nicht, dass er im Geiste seinem schrecklichen Gefängnis entrinnen und sich mit dem Jenseits befassen wollte.
Aber sie wusste nicht, was sie ihm antworten sollte. Sie konnte ihm sagen, dass er auf einer Blumenwiese liegen, süßen Honig trinken und juwelenbesetzte Gewänder tragen würde. Aber sie glaubte an das Gute und das Böse und an einen Propheten und einen Gott, die gleichfalls an diese Dinge glaubten. Daher konnte sie Tod nicht guten Gewissens weismachen, er würde dafür, dass er skrupellos eine ganze Stadt auslöschte, auch noch belohnt werden. Doch es blieb ihr erspart, entweder mit einer barmherzigen Lüge oder einer unbarmherzigen Wahrheit aufwarten zu müssen, denn über ihnen, über dem Deck, den Segeln und sogar über dem Mast selbst erscholl ein lauter Ruf.
»Land ahoi!«
9
»Tod?«
»Ja, Mädchen?«
»Haben wir Halt gemacht?«
»Ja. Sie sind vor Anker gegangen. Wir müssen in der Nähe unseres Ziels sein.«
»Warum haben wir Halt gemacht?«
»Sie warten auf einen Sturm. Auch das hat mir der Soldat gesagt. Erst dann segeln wir näher an die Stadt heran, und ich werde meine Aufgabe erfüllen.«
Feyra begann das Aufziehen des Sturms zu fürchten, weil sie sich etwas Furchtbares abverlangen musste. Etwas Derartiges in Erwägung zu ziehen wäre für jeden Menschen entsetzlich gewesen, aber sie kostete es eine besondere Überwindung. Nicht nur, weil der Mann in dem Sarg jetzt ihr Freund war, sondern auch, weil sie als Ärztin geschworen hatte, zu heilen und nicht zu töten. Sie wünschte sich verzweifelt, sich zu erkennen zu geben und ihren Vater suchen zu können, aber das durfte sie – um seinetwillen – erst tun, wenn die Tat ausgeführt war. Schließlich glich ein einzelnes Leben nur einer Feder, wenn man es gegen die Zehntausende aufwog, die gerettet werden konnten.
Der Moment der Entscheidung kam früh an einem Morgen mit einem gleißenden Blitz, der vor den Ritzen der Bordwand aufflammte und den Laderaum einen Augenblick lang hell erleuchtete, gefolgt von einem krachenden Donnerschlag, der ihre Rippen erzittern und ihre Zähne klappern ließ. Fast gleichzeitig hörte Feyra eine Kette klirren, als der Anker gelichtet wurde. Die großen eisernen Flügel kratzten an der Seite des Laderaums wie ein wildes Tier, das eingelassen werden wollte, und das Schiff begann sich zu bewegen.
Hoch über sich vernahm sie die Rufe der Seemänner, das Knirschen von sich spannenden Seilen und das Knarren sich blähender Leinwand, als die Segel gehisst wurden. Das Schiff fing an zu schlingern, beschrieb einen Ruck nach vorne, und die Il Cavaliere nahm volle Fahrt auf.
Während dieser letzten Tage hatte sie sich ein wenig von Tod zurückgezogen. Zum einen wusste sie, dass sich sein Zustand verschlechterte – das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer, und wenn er sprach, wirkte er manchmal verwirrt. Zum anderen lag ihr Weg jetzt klar vor ihr, und sie konnte es nicht ertragen, in dem Wissen um das, was sie bald tun musste, bei ihm zu sitzen.
Als das Schiff seine Geschwindigkeit erhöhte, durchquerte sie torkelnd und stolpernd den schwankenden Laderaum und zog den Vorhang ein letztes Mal zurück. Draußen rauschten der Wind und das Wasser, und die Planken knarrten protestierend, aber in dem Sarkophag herrschte eine gespenstische Stille. Vielleicht war der Mann darin bereits tot. Sie hoffte es zumindest.
Sie kauerte sich hinter den schweren Sarg und stemmte sich so fest wie möglich dagegen. Sie war fast vollständig von ihrer Krankheit genesen und hatte vorsichtig von den Vorräten gegessen und getrunken, um wieder zu Kräften zu kommen. Dennoch konnte sie den großen Kasten keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Am Ende nutzte sie die Naturgewalten, um ihr Ziel zu erreichen. Das Schiff schwankte und
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