Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
las ihr alles vom Gesicht ab und sank geschlagen auf sein Lager zurück. Das Schiff schwankte erneut, als der Anker gelichtet wurde, der Wind die Segel blähte und der Abstand zum Dock rasch größer wurde.
Feyra beobachtete, wie die vom Bullauge eingerahmte Szene, die um Tod gescharte, dem Untergang geweihte Gruppe von Menschen kleiner und kleiner wurde. Sie wandte den Blick nicht ab, bis sie sie kaum noch sehen konnte, bis sie nicht größer waren als die schwarzen Sporen des St.-Bartholomäus-Baums.
11
Feyra kehrte an die Seite ihres Vaters zurück, ihre Sorge galt jetzt einzig und allein ihm.
All ihre anderen Gefühle unterdrückte sie. Sie war dazu erzogen worden, die Bewohner von Venedig zu hassen, aber sie empfand nichts als Mitleid mit dieser jungen Mutter, ihrem Kind und all den anderen, die Tod zu Hilfe geeilt waren. Und sie hatte ihre Mutter enttäuscht, es war ihr nicht gelungen, den Dogen vor dem drohenden Unheil zu warnen. Aber ihr würde genug Zeit bleiben, ihr Versagen in Ruhe zu bereuen. Ihre Aufgabe bestand jetzt darin, ihren Vater zu heilen und nach Hause zu bringen.
Nachdem es sich seiner grässlichen Fracht entledigt hatte, hatte das Schiff gewendet und segelte mit voller Fahrt von der Stadt fort. Feyra kniete neben dem Bett ihres Vaters nieder, um ihm mit dieser Neuigkeit Mut zu machen. Einen Moment lang fürchtete sie, er wäre schon von ihr gegangen, aber als sie nach seiner Hand griff, erwachte er und hustete erneut leicht. Erleichterung durchströmte sie – durch Husten reinigte der Körper die Lungen von giftiger Luft –, und sie lächelte ihn an. »Gib nicht auf, Vater. Wir kehren nach Hause zurück. Bald werden wir den Bosporus und die Serail-Landspitze wieder sehen, und die Kuppel der Hagia Sophia wird golden im Sonnenlicht leuchten.«
Er schüttelte sehr langsam den Kopf. »Giudecca«, flüsterte er. Seine Stimme klang so heiser wie das Krächzen eines Raben.
Es waren Worte, die sie nicht kannte, aber sie wusste, dass die Pest Kranke in ein Delirium fallen lassen konnte. Sie tätschelte seine Hand, doch er packte sie und hielt sie fest. »Sicheres Haus«, fuhr er fort. »Sultan … versprochen.«
Sie nickte mit einem strahlenden Lächeln, obwohl sie in Wirklichkeit nicht glaubte, dass der Sultan eine solche Sicherheitsvorkehrung getroffen hatte. Die Männer an Bord der Il Cavaliere waren ihm sicher genauso entbehrlich, wie Tod es gewesen war, und jeder Moment, den sie in diesen Gewässern verbrachten, brachte sie in weitere Gefahr.
Feyra war in diese unerfreulichen Gedanken versunken, als sie zum Bullauge zurückkehrte. Sie wollte sehen, wie Venedig in der Ferne verschwand und sie den Rückweg antraten. Für sie haftete der Stadt keinerlei Schönheit an: Ihre Mitschuld an dem grausamen Schicksal, das sie erwartete, machte sie zu einem Ort des Entsetzens. Sie schwor sich, Konstantinopel nie wieder zu verlassen, wenn sie erst wieder dort war. Sie würde nie wieder hierher zurückkehren, nie wieder. Schon alleine der Name Venedig war ihr verhasst. Sie wollte den geflügelten Löwen nie wieder sehen müssen. Er war ein Monster, und jede Seemeile, die zwischen ihr und seinem Reich lag, war ein Segen.
Aber statt auf das offene Meer hinauszusegeln, steuerte das Schiff auf eine graubraune Landspitze nördlich der Stadt zu. Nur wenige Häuser hier konnten sich mit der Pracht messen, die sie rund um den großen Platz gesehen hatte, und das Mauerwerk war schlichter, grober, braun und gesprenkelt wie ein Hühnerei. Hier und da gab es auch Ruinen, die wie Zahnlücken in den Häuserreihen klafften, und dazwischen lagen grasbewachsene Ödlandflächen. Das Schiff glitt längsseits an eine solche Wildnis heran.
Feyra hatte gelernt, zu erkennen, wann der Anker geworfen wurde und das Schiff zum Stillstand kam, aber sie verstand das alles nicht. Warum machten sie hier Halt? Warum segelten sie nicht so schnell wie möglich nach Hause? Was konnten sie hier denn noch zu erledigen haben?
Sie setzte sich wieder neben ihren Vater und ergriff seine Hand. Der Regen hatte nachgelassen, und alles war ruhig.
Zu ruhig.
Ruhig genug, dass sie hören konnte, wie der kleine Messingschlüssel im Schloss der Schlafkabine gedreht wurde. Sie erhob sich voller Angst, als die Tür geöffnet wurde und ein halbes Dutzend Janitscharen mit schwarzen Gesichtsmasken in den Raum trat.
Keiner sprach ein Wort, aber ein Mann nahm sie am Arm und zog sie zur Seite. Vier andere griffen nach den Seilen an jeder Ecke des
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