Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Hoffnung an, da sie wusste, dass er den Zitronenbalsam riechen konnte. Er würde gesund werden, und ihre Operation hatte ihn gerettet.
Dann starb er.
Einmal mehr musste Feyra sich zwischen Brunnen und Meer entscheiden, und diesmal aus einem weit düstereren Grund. Sie wollte ihren Vater nicht in einer einem anderen Gott geweihten Erde begraben und konnte nicht riskieren, anderswo ein Grab auszuheben. Sie wollte auch nicht, dass das Meer zu seiner letzten Ruhestätte wurde. Obwohl der Ozean seine Heimat gewesen war, wollte sie nicht, dass feindliche Gewässer seinen Körper aufblähten und er an ein feindliches Ufer geschwemmt wurde. Sie wählte den Brunnen, weil er darin rasch unter die Erde gelangte, wie es der Prophet vorschrieb, und von den Steinen vor dem unheiligen Ort geschützt wurde, der ihn umgab. Die Ruine war verlassen, es schien keine Gefahr zu bestehen, dass jemand Wasser aus diesem Schacht schöpfte. Und eines Tages konnte sie vielleicht zurückkehren, wenn Gott ihr gnädig war, um seine Gebeine zu holen, sie nach Hause zu bringen und dort mit allen Ehren zu bestatten.
Da es ihr nicht möglich war, das Bett an den Seilen hinter sich herzuziehen, rollte sie Timurhan in seinen Laken von dem Lager herunter, dankbar dafür, dass sie ihn wie ein Leichentuch einhüllten und sie sein geliebtes, totes Gesicht nicht sehen musste.
Trotzdem benötigte sie in ihrem geschwächten Zustand über eine Stunde, um ihn zum Brunnen zu schaffen. Sie trank ein letztes Mal, dann befestigte sie ihren Vater wie einen großen Fisch an dem Haken, hievte ihn mit Mühe über den Rand und hielt ihn in einer letzten grässlichen Umarmung fest, bevor sie ihn fallen ließ. Feyra schloss die Augen, hörte nur das Rasseln der Kette und das Platschen, mit dem Timurhan auf der Wasseroberfläche aufschlug. Dann spähte sie hinunter. Der eingehüllte Leichnam sah einen Moment so aus, als würde er aufrecht stehen, dann zog ihn das vom Regen angeschwollene Brunnenwasser in die Tiefe.
Feyra sah zu, wie das Wasser unter ihr Blasen warf und sich wieder glättete. Sie nestelte an dem Ring an ihrem Finger herum, erwog einen Moment, ihn ihrem Vater hinterherzuwerfen, damit er etwas von ihrer Mutter bei sich hatte. Aber ihr Vater war in der Dschanna und sie hier, und der Ring war alles, was sie mit ihrer Familie, ihrer Mutter und – das Außergewöhnlichste von allem – mit dem Dogen verband.
Ihr Weg lag plötzlich klar vor ihr. Dieser Ring war die Garantie für ihre Sicherheit. Sie würde zum Dogen gehen. Ihre Mission, die Pest von seiner Tür fernzuhalten, war gescheitert, sie hatte versagt, aber sie konnte den Ring vorzeigen, Erinnerungen an seine geliebte verlorene Nichte Cecilia Baffo wecken und um eine sichere Rückkehr in die Türkei bitten.
Sie verhüllte ihr Gesicht wieder mit einem Schleier, weil sie es plötzlich eilig hatte, diesen Ort zu verlassen, an dem sie die letzten Stunden mit ihrem Vater verbracht und wo sie mit den Händen über das taufeuchte Gras gestrichen und die Betonie und die Münze gefunden hatte. Doch gerade als sie sich ein letztes Mal umsah, hörte sie, wie draußen etwas gegen den Pier prallte.
Feyra rannte zum Tor und spähte durch den kleinen Bogen des Ruderhauses. Ein Boot hatte am Dock angelegt, und ein Mann in langen Gewändern kam an Land und schlang die Fangleine um einen Pfahl.
Mit angehaltenem Atem verbarg sie sich im Torhaus und beobachtete ihn durch die große bogenförmige Türöffnung. Er hinkte ein wenig, und bei näherer Betrachtung folgerte sie aus seinem Alter und seinem Gewicht, dass er an der Gicht litt. Als er nur noch eine Armspanne von ihr entfernt war, hörte sie, dass er leicht pfeifend atmete. Entweder hatte er als Kind Lungenfieber gehabt, oder er arbeitete an einem Ort, wo er schlechter Luft ausgesetzt war. Letzteres nahm sie nicht an, denn sie sah, dass seine Kleider aus Samt und Eichhörnchenpelz gefertigt waren, außerdem trug er einen schwarzen, weichen, viereckigen Hut. In Konstantinopel zeugte das Tragen eines Hutes von einem hohen Rang, und er trug den seinen, als sei das hier auch der Fall. Sein Gesicht war freundlich, seine Augen gütig und sein Bart weiß. Sie war versucht, sich zu erkennen zu geben und ihn in seiner eigenen Sprache anzusprechen, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Also sah sie nur zu, wie der Mann in der Ruine umherging. Sie hielt den Atem an und betete, dass er sich nicht dem Brunnen näherte. Ihre Gebete wurden erhört, er schien kein Interesse
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