Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
lassen. Sie breitete die Löffel aus wie einen Fächer, wählte den kleinsten aus, häufte ein wenig von dem entsprechenden Pulver darauf und schob ihn zwischen Timurhans ausgedörrte Lippen.
Da sie nichts anderes tun konnte, als abzuwarten, nutzte sie die Zeit, um sich um ihren eigenen Körper zu kümmern. Sie brach ein Stück von dem Brot ab, das Takat zurückgelassen hatte, und zwang sich, es langsam zu essen. Sowie ihr nagender Hunger notdürftig gestillt war, streifte sie durch die Ruine und suchte nach Ersatz für die Weinraute, die sie verloren hatte. Sie ließ sich auf die Knie sinken und durchkämmte das feuchte Gras mit den Fingern. Der Tau erfrischte sie und säuberte ihre schmutzigen Nägel. Sorgfältig untersuchte sie die Gräser, die rund um die alten Steine wuchsen, die winterharten Blumen, die sich zwischen den Ritzen im Mauerwerk hervordrängten, und die Kräuter, die die Ränder von etwas säumten, das wie ein alter Garten aussah.
Feyra sog die unzähligen verschiedenen Düfte ein, als die Sonne aufging und bewirkte, dass sich die Blätter entrollten und die Blüten öffneten. Als erfahrene Kräuterkundige musterte sie die Form dieser Blätter sowie Farbe und Anzahl der Blüten ganz genau. Einige Pflanzen konnte sie identifizieren, andere nicht. Aber in der Nähe des Brunnens fand sie die gesuchte Weinraute.
Mit einem kleinen Triumphschrei kniete sie sich auf den Boden, um die vertraute fedrige Pflanze mit den blaugrünen Blättern und gelben Blüten zu untersuchen. Der mit Wasser vollgesogene Untergrund durchweichte ihre Knie, während sie die Blätter zur Seite schob, um die kostbaren Früchte zu pflücken, kleine Kapseln, die zahlreiche Samenkörner enthielten. Ermutigt setzte sie ihre Suche fort und entdeckte in einer Ecke unter einem umgestürzten Bogenfries eine seltene Beute: einen Busch im Schatten wachsender Roter Betonien. Und als ihre Finger an den zähen Wurzeln zerrten, stieß sie auf einen noch greifbareren Schatz: eine runde Metallscheibe.
Sie rieb die Münze an ihrer schmutzigen Hose, bis sie einen stumpfen goldenen Schimmer wahrnahm. Dann schob sie sie in den Mund und biss darauf.
Gold.
Sie betrachtete die Münze im Licht, das durch die bogenförmigen Fenster fiel. Eine Seite zeigte einen bärtigen Mann mit ausgebreiteten Armen – sie kannte den Mann, es war der Prophet namens Jesus, und sein Zeichen war das Kreuz. Auf der anderen Seite kniete ein Mann vor einem anderen Mann. Der kniende Mann trug einen seltsam geformten Hut, der stehende einen Reif um den Kopf. Der Mann mit dem Stirnreif glich der Statue, die sie auf einer der großen Zwillingssäulen gesehen hatte, zwischen denen Tod hindurchgeschritten war. Aber die Identität des knienden Mannes war ihr ein Rätsel.
Feyra hielt das kalte Metall einen Moment lang so vorsichtig fest, als würde es sie verbrennen, dann schob sie die fremdartige Münze unter die Bandage, die ihre Brüste flachpresste. Sie hatte keine Ahnung, welchen Wert sie haben mochte, aber sie würde davon sicherlich einen Laib Brot für ihren Vater erstehen können, vielleicht auch noch Wein und Fleisch. Bei dem Gedanken lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Die Glocke brachte sie wieder zu sich, und sie kehrte zu ihrem Vater zurück. Es war Zeit für die nächste Dosis Medizin, und sie segnete ihr Glück. Sie würde es mit einem Betoniensud versuchen, der als besonders wirksames Heilmittel für offene Wunden, Druckstellen und Beulen bekannt war.
Vielleicht lag es am heller werdenden Licht, aber ihrer Meinung nach sah ihr Vater nach ihrer Behandlung etwas besser aus. Sie senkte den Kopf und betete an seiner Seite, wobei sie versuchte, sich an die genauen Worte der Vorbeter zu erinnern.
Eines der wichtigsten Gebote der osmanischen Medizinkunde war das Konzept des Mizan, des Gleichgewichts. Das Gleichgewicht war von elementarer Bedeutung für die Gesundheit, die Zweiheit und die Einheit von Körper und Geist. Das Wohlbefinden des einen hing von dem des anderen ab, und der Körper musste als Gesamtheit behandelt werden. Dies bedenkend wandte sich Feyra ihrem eigenen Wohlbefinden zu, nachdem sie sich von ihrem Gebet erhoben hatte. Ihre Körperausdünstungen beleidigten ihre Nase, und ihre Haare wimmelten von Läusen. Sie erwog, in den Brunnen zu steigen, aber das salzige Meerwasser würde ihren Körper und ihre Kleider gründlicher säubern.
Sie zog die Decke vom reglosen Körper ihres Vaters und ging zu dem verlassenen Ufer hinunter. Dort entkleidete
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