Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
ihre Hand hin, und er war ihr beim Einsteigen behilflich. Er war erst der zweite Mann in ihrem Leben, der ihre Hand gehalten hatte.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, und Feyra war der einzige Passagier. Sie vermutete, dass die Menschen hier bei Anbruch der Dämmerung von Venedig zu den umliegenden Inseln übersetzten, so wie viele Arbeiter von Konstantinopel zurück nach Pera fuhren, wo sie wohnten. Im Gegensatz zu den Stechkähnen auf dem Bosporus gab es in diesem Boot keine Sitze, daher wäre sie beinahe gefallen, als der Mann es vom Ufer abstieß, und war gezwungen, erneut nach seiner Hand zu greifen. Trotz der Decke fror sie erbärmlich, das Schwanken des Bootes verursachte ihr Übelkeit, und die Anstrengung, das Gleichgewicht zu halten, ermüdete sie. Der Mann steuerte das Boot geschickt mit einem langen Ruder und pfiff dabei. Voller Erleichterung sah sie die Stadt, vor der sie sich so gefürchtet hatte, näher kommen. Im Augenblick wollte sie nichts anderes, als wieder an Land zu gehen.
Sie legten offenbar weit entfernt von der Stelle an, wo Tod von Bord gegangen war. Zwar konnte sie den Turm noch sehen, der auf ihrem Kompass Norden darstellte, aber er lag in der Ferne und wurde teilweise von hohen Gebäuden verdeckt. Aus ihrer Zeit in Konstantinopel wusste sie, dass die bedeutendsten und mächtigsten Männer in den größten Häusern lebten. Um zum Dogen zu gelangen, musste sie den großen Platz wiederfinden, vor dem die Il Cavaliere zwei Tage zuvor vor Anker gegangen war.
Als das Boot am Dock anlegte, sprang der Mann an Land, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Sie nickte zum Dank, und er musterte sie erneut freundlich. Als sie ihre Hand aus der seinen löste, befand sich die Münze wieder in ihrer Handfläche. Sie drehte sich um, um Einwände zu erheben, aber er hatte das Boot schon wieder vom Dock abgestoßen und zu pfeifen begonnen.
Feyra segnete ihn stumm und steckte die Münze weg. Ihre Stimmung hatte sich beträchtlich gehoben, als sie in die dunkel werdenden Straßen eintauchte. Sie hatte wieder festen Boden unter den Füßen, und es gab noch Güte auf der Welt, sogar in der Fremde.
Aber ihr Optimismus schwand zusammen mit dem Licht. Dies war ein höllischer Ort. Es kam ihr vor, als könne sie stundenlang laufen, nur um dann wieder am Ausgangspunkt zu landen. Grässliche, gespenstische Geräusche hallten von den steinernen Mauern wider, das Lampenlicht brach sich im Wasser und wurde als verzerrtes Glühen zurückgeworfen, das furchterregende Schatten über den Boden tanzen ließ. Nebelschwaden waberten um sie herum und erschwerten es ihr zusätzlich, sich zurechtzufinden. Zu dem natürlichen Meeresdunst kamen noch die von Menschen entzündeten Feuer, von denen beißender gelber Rauch aufstieg, der Hustenreiz auslöste. Feyra war außer Atem und wurde von dem erstickenden Rauch gepeinigt, zudem fühlte sie sich von den hohen, schmalen Häusern und den schmalen Gassen eingeengt. In Konstantinopel waren die Gebäude niedrig. Und hier war der Gott der Ungläubigen allgegenwärtig: An jeder Ecke standen von Kerzen erleuchtete Schreine des Prophetenbabys und seiner Mutter, und an viele Türen waren rote Kreuze gemalt. Dennoch lungerten in denselben Hauseingängen gottlose Dirnen herum; zwei Mal sah sie Frauen mit entblößten Brüsten, die den Vorübergehenden unsittliche Angebote machten. Schockiert wandte sie sich ab, nur um mit einem noch erschreckenderen Anblick konfrontiert zu werden – Gestalten, die sich im Schatten eines Torbogens umarmten. Feyra war nicht prüde, sie war im Harem aufgewachsen und wusste, was sie da sah. Aber der Sultan frönte seiner Lust wenigstens hinter verschlossenen Türen, in Konstantinopel würde man für Unzucht in der Öffentlichkeit gesteinigt werden.
Schlimmer als die menschlichen Bewohner der Stadt waren die grotesken Mischwesen, die sie sah. Vögel, Bestien und Dämonen schienen aus dem Nebel aufzutauchen. Es dauerte einige Zeit, bis Feyra begriff, dass sie nicht unter Wahnvorstellungen litt: Die Bürger trugen bemalte Masken. Von Kindheit an hatte sie die Legenden gehört, denen zufolge die Venezianer halb Mensch, halb Tier waren. Sie wusste, dass das nicht stimmen konnte, aber in den wabernden Nebelschwaden dieser entsetzlichen Stadt war sie fast geneigt, es zu glauben. Die Kreaturen starrten sie über gekrümmte Nasen hinweg aus leeren, hohlen Augen an. Und über all das herrschte der geflügelte Löwe. Er war überall, beobachtete sie von Tafeln an den Häusern
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