Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
hinunterzusteigen. »Bist du … ?«, begann einer der Wächter, dem etwas dämmerte.
»Sie ist !«, entfuhr es dem anderen.
»Bist du eine Türkin?«
Feyra schüttelte den Kopf und wich noch weiter zurück. Die Menge unten war verstummt; verfolgte das sich auf den Stufen abspielende Drama. Feyra stolperte, taumelte zurück, verlor einen ihrer gelben Pantoffeln und fiel vier weitere Stufen hinunter. Sie spürte Stiche in ihrer Seite, schnappte vor Schmerz und aufgrund des Anblicks ihres im hellen Fackelschein mitten auf der Treppe liegenden Schuhs, des gelben Schuhs eines Muselmanen mit der unverkennbaren hochgebogenen Spitze, entsetzt nach Luft.
»Seht nur, der gelbe Schuh!«, schrie eine Stimme aus der Menge.
»Sie ist eine Muselmana !«
Feyra rappelte sich hoch und rannte los.
Die Menge riss ihr die Decke weg, zerrte an ihren Schleiern, zerriss ihre Hose und versuchte sie festzuhalten, damit die Wächter sie festnehmen konnten. Sie setzte sich erbittert zur Wehr, machte sich los und bemühte sich, die Ohren vor den Schmähungen und Beleidigungen zu verschließen, mit denen ihr Volk überschüttet wurde. Solche Hasstiraden gegen die Türken hatte sie noch nie zuvor gehört. Ihre Schleier waren mit Speichel durchweicht, ihre Seite blutete, weil eine der Phiolen in ihrem Gürtel zerbrochen war. Aber wie ein gejagtes Tier schüttelte sie die Hände ab, die nach ihr griffen, und floh weiter.
Sie rannte über den Platz, wobei sie einen Blick nach oben riskierte. Dort bot sich ihr ein Anblick, der nacktes Entsetzen in ihr auslöste. Hoch über dem Tor des Tempels standen vier große Bronzepferde mit Schaum vor den Nüstern, geöffneten Mäulern und über den Boden scharrenden Vorderbeinen.
Die vier Pferde waren bereits hier.
Da sie vor ihnen fast noch mehr Angst hatte als vor dem Pöbel, verdoppelte sie ihre Anstrengungen. Die dunklen Gassen, vor denen sie sich gefürchtet hatte, waren jetzt, auf der Flucht vor der sie verfolgenden Menge, ihre Freunde. Die beiden Wächter hinter ihr wurden von ihrer schweren Rüstung behindert, die klirrend verkündete, wo sie sich befanden. Ohne zu wissen, wo sie war, lief Feyra durch die Nacht, über ein Dutzend, über hundert Brücken. Ein oder zwei Mal hörte sie das verräterische metallische Klirren, weit entfernt oder ganz nah, das vom Wasser und den Steinen widerhallende Echo verzerrte die Geräusche. Einmal fanden sich Verfolger und Verfolgte auf zwei parallel liegenden Brücken wieder, und einen furchtbaren Moment lang blickten sich Feyra und die Wächter in die Augen. Jetzt befand sie sich im Nachteil, denn die Männer wussten, wie sie zu ihr gelangen konnten, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihnen ausweichen sollte.
Eine Hand auf ihre blutende Seite gepresst, entschied sie sich für eine Richtung, doch sie traf die falsche Wahl. Erneut geriet sie in eine Sackgasse und stand vor einem Kanal, der zu tief war, um hindurchzuwaten, und zu breit, um darüber hinwegzuspringen. Sie wirbelte herum und jagte in einen kleinen, dunklen Platz, und hier besiegte die höllische Stadt sie endlich. Der Platz hatte nur einen Ausgang, den, durch den sie gekommen war. In der Gasse hinter ihr kam das Klirren näher.
Sie konnte nicht weiterlaufen. Erschöpft sackte sie in sich zusammen und wartete darauf, dass die Wächter sie einholten. Sie schloss die Augen und rang so heftig nach Atem, dass sich der feuchte Schleier vor ihrem Mund abwechselnd blähte und eingesogen wurde. Da sie sicher war, dass ihr Ende kurz bevorstand, sprach sie ein kurzes Gebet.
Es wurde erhört. Als sie die Augen aufschlug, sah sie auf der anderen Seite des Platzes etwas golden schimmern. Über einer Tür glänzte ein umgekehrtes V, eine Form, die ihr sowohl vertraut als auch lieb und teuer war. Feyra erhob sich, überquerte den Platz und spähte durch die Nebelschwaden. Vor einer Doppeltür aus Eichenholz blieb sie stehen. Sie hatte sich nicht geirrt. Über der Tür prangte ein in den Stein eingemeißelter vergoldeter Zirkel.
Ein Haus mit einem goldenen Zirkel über der Tür.
Plötzlich hörte sie die Rufe ihrer Verfolger und das Klirren ihrer Waffen. Sie hämmerte im selben Rhythmus gegen die Tür, da die Klangwirkung dieser Straßen zur Folge hatte, dass sie nicht wusste, ob sie noch ein paar Gassen entfernt oder ganz in der Nähe waren. Die Tür wurde geöffnet, und ein Mann stand vor ihr. Sein ergrauendes Haar stand ihm stachelig vom Kopf ab, sein schmaler Mund stand offen, und eine der neumodischen
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