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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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erwartet, aber er erblickte eine üppige grüne Rasenfläche und eine herrliche Allee weißer Maulbeerbäume, deren goldgeränderte Blätter sich vom tiefblauen Himmel abhoben. Hier und da zeugten abgebrochene Säulen und große umgestürzte Steine davon, dass dort einst ein altes Gebäude gestanden hatte. Innerhalb der Mauern befand sich eine Reihe niedriger steinerner Armenhäuser mit einer kleinen Kirche an einer Ecke und in der Mitte von allem ein großes überdachtes Bauwerk mit sich nach außen öffnenden Bögen, das die Venezianer als Tezon bezeichneten.
    Er hatte viel von diesem Ort gehört und konnte sich jetzt vorstellen, was sich hier abgespielt hatte, wenn ein Schiff kam. Er sah die Szene förmlich vor sich, bevölkerte die Insel im Geist mit Menschen. Erst ging die Besatzung von Bord und stapfte durch eine flache Kalkgrube. Dann luden die Männer die Waren aus, stapelten sie im Tezon auf und markierten die Ladung durch ein Kennzeichen an der Wand. Danach wurde die Besatzung für vierzig Tage in den Armenhäusern untergebracht – der Ursprung des Wortes Quarantäne. Es wurde von ihnen erwartet, dass sie gesund und keusch lebten und den Gottesdienst in der kleinen Kirche besuchten, wenn sie keine Ungläubigen waren. An jedem der vierzig Tage wurden die Waren durch die offenen Bögen vor das Tezon geschafft, über reinigenden Feuern geräuchert, gelüftet und über Nacht wieder unter dem großen Dach gelagert. Sowie Ware und Besatzung für nicht gesundheitsgefährdend erklärt worden waren, durften sie die Insel verlassen, die Stadt Venedig betreten und dort ihre Waren verkaufen.
    Annibale wusste, dass es einen Erlass des Rates gegeben hatte, demzufolge alle Handelswaren klar gekennzeichnet werden mussten, weil der Schwarzmarkt auf den Quarantäneinseln blühte. Die Waren, die nach dem Räuchern und Lüften wieder in den Laderaum zurückwanderten, waren mengen- und qualitätsmäßig nicht immer mit dem identisch, was ausgeladen worden war. Annibale fragte sich, wie viel Geld Bocca im Lauf der Jahre dadurch verdient hatte, dass er Luxusgüter gegen billigere Ware ausgetauscht hatte. Nun, bald würde er sich einen Eindruck von der Ehrlichkeit des Torhüters verschaffen können.
    Annibale trat durch einen der großen Bögen in das Tezon. Sobald sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er eine große, gähnend leere Fläche, von deren früherer Nutzung nur noch ein paar alte Fässer und eine oder zwei zerbrochene Kisten zeugten. Die Wände jedoch erzählten ihre eigene Geschichte. Auf jede freie Stelle waren Schriftzeichen und Zeichnungen gekritzelt worden, einige venezianisch, andere osmanisch, wieder andere in ihm unbekannten, fremdartigen Hieroglyphen. Alle leuchteten rot, und wenn dies ein Gefängnis gewesen wäre, hätte er gedacht, sie wären mit Blut geschrieben. Er trat näher heran, rieb mit dem Finger über ein Schriftzeichen und schnupperte an seinem Handschuh. Es war Eisenoxyd, dieselbe Mischung, mit der die Fracht gekennzeichnet worden war. Einige von ihrem vierzigtägigen Zwangsaufenthalt im Lazarett offensichtlich gelangweilte Seeleute hatten ihrem künstlerischen Talent freien Lauf gelassen – hier prangte eine Gondel, dort eine perfekte Galeere, hier ein Ritter und dort ein turbanbewehrter Ungläubiger.
    Als Annibale an einem Ende des großen Raums angekommen war, blickte er sich um. Jede Maueröffnung bildete eine natürliche Nische, und er konnte Dutzende von Matratzen dort unterbringen. Er würde nur die offenen Bögen verschließen lassen müssen, um die Kranken vor den Elementen zu schützen.
    Annibale duckte sich wieder ins Freie und erklomm die mächtige Grenzmauer, die murada, die der Insel ihren alten Namen gegeben hatte. Entlang der Mauer standen in regelmäßigen Abständen torresin, Wachtürme, auf denen die Marschälle standen und die Schiffe im Auge behielten. Er stieg auf einen davon hinauf und blickte über das Gelände hinweg. Jenseits der Mauern lag eine kleine bewaldete Wildnis, und zwischen den Lorbeer- und Schlehdornbäumen hindurch verlief ein Rundweg. Dahinter erstreckten sich bis zur Lagune führende salzige flache Marschen. Sie waren mit kleinen Tümpeln durchsetzt, die sich perfekt für die Forellenzucht oder als Wäscheteiche eigneten. Ganz hinten am Horizont, so klein, wie ihm diese Insel gestern Abend vorgekommen war, lag Venedig, das aus dieser Entfernung zu einer dornigen Zinnkrone inmitten der Lagune zusammengeschrumpft war.
    Annibale stieg die

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