Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
sein?«
Palladio warf die Arme hoch und verschränkte die Hände hinter seinem weißhaarigen Kopf. »Weil es sich um ein Opfer handelt. Ich habe einen Vertrag abgeschlossen, er ist besiegelt, die Dokumente sind unterzeichnet, und es gibt keine Möglichkeit, davon zurückzutreten.« Er nahm wieder Platz und ließ die Hände sinken. »Der Doge glaubt, Gott würde unsere Stadt verschonen, wenn ich zu Seinen Ehren ein Wunderwerk der Architektur baue. Er glaubt, die Bürger von Venedig haben gesündigt, und Gott hat sie dafür gestraft.«
Feyra, die diese neue Begründung für die Katastrophe außerordentlich interessierte, gab nicht preis, dass der perfide Plan eines sterblichen Mannes, der im Topkapi-Palast saß, die Seuche nach Venedig gebracht hatte. Sie dachte an ihren früheren Beruf. »Was ist mit den Ärzten? Es muss hier doch welche geben.«
»Der Doge schickt morgen einen zu mir, der mir meine Gesundheit erhalten soll. Er glaubt, ein Arzt könne mich retten, aber nur Gott kann uns retten.« Palladio faltete seine rauen Hände, als wolle er beten. »Aber das zählt nicht, ich habe meinen Vertrag und muss ihn erfüllen. Nur dass ich das nicht kann.« Er sah sie an. »Was tust du, wenn dir etwas nicht gelingt?«
Feyra dachte an die vielen Male im Harem, wo ihre Mittel nicht gewirkt hatten. »Ich gehe zum Anfang zurück«, sagte sie schlicht. »Ich denke, Ihr müsst Euren Anfang finden.«
»Meinen Anfang finden«, sinnierte er und saß dann so lange still da, dass Feyra sich fragte, ob sie besser gehen sollte. Sie begann, sich im Raum umzusehen. Ihr Blick blieb an einer einzelnen Zeichnung hängen, die an die Wand geheftet und vom Feuer verschont geblieben war. Sie stand auf und ging zu ihr hinüber.
Die Zeichnung zeigte einen Mann mit wildem Haar und feurigen Augen. Sie spürte, wie sie errötete, denn er war unbekleidet – ein Mann in der Blüte seiner Jahre, mit glühenden Augen und Haaren wie Sonnenstrahlen. Er hatte doppelt so viele Gliedmaßen wie andere Menschen, alle ausgestreckt wie die einer Spinne, ein Paar war von einem Kreis, das andere von einem Quadrat umgeben.
Ein Mann innerhalb eines Kreises innerhalb eines Quadrats.
»Warum bewahrt Ihr das auf?«
Der Architekt löste sich aus seiner Versunkenheit und blickte langsam auf. »Weil es nicht von mir ist. Sondern von einem Mann namens Leonardo aus Vinci in der Nähe von Florenz. Dies ist die Zeichnung, mit der alles begonnen hat. Dies …« Er erhob sich. In seiner Stimme schwang eine Erkenntnis mit. »Dies ist mein Anfang.«
Mit neu erwachter Energie nahm Palladio eine Kerze aus dem nächstbesten Leuchter und humpelte die kleine Wendeltreppe zum Mezzanin hoch. Der safrangelbe Lichtkreis wanderte über die Buchrücken hinweg und beleuchtete die Buchstaben, so wie die Tinte seiner eigenen Zeichnungen von den Flammen vergoldet worden war. Er zog einen alten Band aus dem Regal und blies den Staub von den Seiten. »Da ist mein alter Freund ja.« Er trug das Buch nach unten und warf es mit einem dumpfen Aufschlag und einer ihn begleitenden Staubwolke auf den Tisch. Feyra entzifferte das Wort auf dem Einband. Zuerst dachte sie, es hieße Venedig, aber dann konzentrierte sie sich und las:
» VITRUV .«
»Du liest Latein?«
Feyra hatte in der Bibliothek des Topkapi in einigen Kräuterbüchern geblättert, aber nur ein paar Worte verstehen können. »Nein.«
»Er war zu der Zeit, als die Römer alles beherrschten, ein großer Baumeister.« Palladio lächelte leise. »Als dein Land und meines ein Reich bildeten.«
Feyra sah zu, wie er behutsam die Seiten umblätterte, und dabei fielen ihr seine Hände auf. Sie waren mit Tintenflecken übersät wie die von Zabato, schwer und breit, mit kurzen Nägeln und verhornten, schwieligen Fingerkuppen. Die Hände eines Arbeiters, nicht die eines Adeligen, und doch verstand sie seine Sprache besser als die aller anderen im Haus. Sie vermutete, dass er nicht als Adeliger geboren worden war. Über seine Schulter hinweg warf sie einen Blick in das Buch. »Womit fängt es an?«
Er tippte mit dem Zeigefinger auf das erste Diagramm. »Hiermit. Mit einem Kreis in einem Quadrat.«
Sie runzelte die Stirn. »Ist das die Antwort?«
Ihr Herr seufzte. »Vitruv ist mein Anfang und mein Ende, mein Alpha und Omega. Seine geometrischen Regeln beherrschen alles, was ich tue – und nicht nur das, sondern das gesamte Universum.« Er beschrieb mit einem Arm einen Bogen in Richtung des offenen Fensters, eine Geste, mit der er
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