Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
drehte den Brief um. »Eines vom Absender, das rote, und das orangefarbene vom Gesundheitsrat.« Er zeigte ihr die beiden Wachssiegel.
Ihr Interesse war geweckt. »Und der weiße Fleck?«
»Stammt von der Zange, mit der der Brief über einen Räucherofen gehalten wurde.«
Innerhalb einer Woche hatte sie ein ähnliches System eingeführt, räucherte die Briefe der Familien und überbrachte sie selbst den Patienten. Annibale beobachtete sie, wie sie neben den Kranken stand, während diese die Briefe lasen, oder sie sie den Schwächeren in ihrem akzentbehafteten Venezianisch vortrug. Zu seiner Überraschung lächelten sie, sogar die Sterbenden, und an der Art, wie sich Feyras Bernsteinaugen über dem Schleier verengten, sah er, dass sie ebenfalls lachte.
Annibale fand heraus, dass sie alle Patienten mit Namen kannte. »Nummer eins braucht einen Breiumschlag«, hatte er ihr im Vorbeigehen mitgeteilt.
Sie hatte ihm den Weg versperrt und ihn mit »dem Blick« bedacht. »Welcher ist Nummer eins?«
»Der Bursche ganz am Ende.«
»Das ist Stefano. Tommasos Bruder.«
»Tommaso?«
Wieder »der Blick«. »Nummer fünfzehn.« Er war ehrlich überrascht.
»Es könnte gut für sie sein, wenn sie nebeneinander liegen dürften.«
Sie führte auch noch andere Veränderungen ein – und das häufig, ohne ihn vorher zu fragen. Er wusste, dass sie der Meinung war, er wäre zu versessen auf chirurgische Eingriffe und würde die Patienten grundlos operieren. Sie selbst griff nur zum Messer, wenn es unbedingt sein musste. Er hatte sie angewiesen, die Patienten täglich zur Ader zu lassen, denn er züchtete in einem der Tümpel in den Marschen Blutegel und verfügte über einen unerschöpflichen Vorrat davon. Aber sie betrachtete die sich in ihrem Krug krümmenden schleimigen grauen Tiere voller Abscheu, und er sah niemals, dass sie sie den Kranken ansetzte.
Stattdessen begann sie die Patienten nicht nur von ihren Familien, sondern auch voneinander zu isolieren. Um mehr Privatsphäre zu schaffen, hängte sie große, mit Kampfer getränkte Leinenquadrate als Vorhänge zwischen ihren Lagern auf. Sie wusch die Kranken jeden Tag und legte den Familien nah, sich ebenfalls sauber zu halten. Als Annibale sie darauf ansprach, zitierte sie den Propheten Mohammed: »Säubert euch«, deklamierte sie, »dann wird Gott euch von euren Sünden reinigen.« Dieses außergewöhnliche Mädchen brachte sogar die Nonnen dazu, sich an einem tiefen kleinen Teich hinter dem Schlehdornwald anzustellen und in das Wasser zu tauchen. Annibale, dem es einen Schock versetzte, einen Blick auf einen alabasterfarbenen, Gott geweihten Schenkel zu erhaschen, als er auf dem torresin stand, wunderte sich über die Beziehung zwischen der Badessa und Feyra. Die beiden Frauen hielten einander für Ungläubige, aber die Badessa unterstützte nicht nur Feyras Postsystem, sondern erklärte die täglichen Waschungen auch zur eisernen Regel. Annibale tolerierte Feyras Kapriolen, bis sie ihre topasfarbenen Augen auf ihn richtete und die ungeheuerlichen Worte äußerte: »Euch könnte es auch nicht schaden, wenn Ihr Euch waschen würdet.«
Feyra legte gleichfalls großen Wert auf das, was sie diata nannte – Ernährung. Sie ermutigte die Nonnen, so viele Lebensmittel zu erzeugen, wie sie konnten, und trennte ein kleines Feld hinter den Gärten eigens für den Gemüseanbau ab. Sie pflügte es mit einem Handpflug, nur mit Hilfe des Zwerges, und bebaute es eigenhändig. Sie säuberte die Öfen unterhalb des Hauses, in dem die Nonnen schliefen, bestückte sie mit Maulbeerbaumholz und Nussschalen und ließ die Schwestern Tag und Nacht Brot backen. »Wenn man in Konstantinopel ein Stück Brot auf die Straße fallen lässt, hebt es jemand auf«, erklärte sie Annibale ernst. »Brot ist heilig, es erhält das Leben und die Gesundheit.« Die Badessa, die erst hatte überredet werden müssen, Feyra das Haus hinter dem Friedhofstor betreten und die Öfen anheizen zu lassen, bemerkte dankbar, dass es die Schwestern zum ersten Mal seit Wochen nachts warm hatten.
Sie beteiligte sich auch an einer anderen Veränderung, die Feyra auf seiner Insel vornahm. Feyra erzählte Annibale, dass es in den Krankenhäusern von Konstantinopel üblich war, Tag und Nacht Musik zu spielen. Einige Krankenhäuser verfügten sogar über eine eigene Kapelle. Mit ihrer üblichen Tatkraft ließ sie die Schwestern einen Tag, nachdem sie ihm diese Information hatte zukommen lassen, auf dem Rasen Psalmen,
Weitere Kostenlose Bücher