Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
im geografischen, sondern auch noch in einem tieferen Sinne. Wie es aussah, würde sie sich hier verschleiern dürfen. Es war das erste Zeichen von Freundlichkeit, das er gezeigt hatte.
Feyra blickte zu einer in der Nähe arbeitenden Nonne hinüber, die sich über die Kräuter beugte und in der Erde grub. Dabei baumelte eine schlichte Holzperlenkette vor ihrem Gesicht, an der ein kleines Zinnkreuz hing, das in der Sonne aufblitzte. Es glich dem mit dem Miniaturpropheten daran, das ihr Corona Cucina gegeben hatte und das sie immer noch an ihrem Mieder trug. Sie löste die kleine Brosche von ihrem Spitzenschal und ließ sie in den Brunnen fallen. Dann schlang sie sich die Spitze um den Kopf und drehte sich zu dem Vogelmann um.
»Ich werde nicht ihnen helfen.« Sie deutete auf das Tezon. »Sondern Euch.«
Der Vogelmann benötigte nur eine Stunde, um zu erkennen, was für ein Geschenk ihm mit Feyra in den Schoß gefallen war. Als die Glocke viermal geläutet hatte, rief er sie zu sich. »Gut«, sagte er. »Von jetzt an bist du meine Krankenschwester.«
Feyra erwiderte nichts darauf. Verglichen mit ihrem Status als Haremsärztin war dies eine Degradierung, aber immer noch besser, als als Dienstmädchen zu arbeiten.
»Wie viel hat der Architekt dir bezahlt?«
»Eine Zechine pro Woche.«
»Dann zahle ich dir dasselbe.«
Wenn Feyra gedacht hatte, befördert worden zu sein, dann hatte sie sich geirrt.
Ihre Arbeit war wesentlich schwerer als die in Palladios Haus. Am ersten Tag wechselte sie die beschmutzten Matratzen der Patienten, gab allen Essen und Wasser, wechselte ihre Kleidung und die Breiumschläge auf den zahlreichen Nahtwunden, die sie bei jedem Kranken fand. Einige organisatorische Aspekte des Tezon beeindruckten sie, aber sie fand, dass es von einem Musterkrankenhaus noch weit entfernt war. Sicher, der Vogelmann hatte die Patienten bewundernswert isoliert, die Rauchkammer bei der großen Tür desinfizierte den Arzt beim Kommen und Gehen, und die Kranken waren so bequem wie möglich auf ihren Pritschen untergebracht. Seine Arzneischränke waren gut gefüllt, seine botanischen Gärten ertragreich. Der Torhüter stellte Nahrungsmittel und Wasser draußen vor der Tür ab. Aber die Patienten lagen so eng nebeneinander wie Heringe in einer Kiste, und niemand schien sich um ihren seelischen Zustand zu kümmern.
Den Gesprächen, die sie mit ihnen führte, entnahm sie, dass einige noch nicht einmal wussten, dass sich ihre Familien ganz in der Nähe aufhielten. Während sie sich mit den hier herrschenden Verhältnissen vertraut machte, beschloss Feyra, einige Veränderungen vorzunehmen, solange sie hier war. Und hier konnte sie genauso gut ihre Zechinen verdienen, um ihren Pantoffel zu füllen, wie anderswo. Sowie die Pest abgeflaut war und der Schiffsverkehr wieder aufgenommen wurde, würde sie genug Geld zusammen haben, um in die Türkei zurückzukehren.
Als sie an diesem ersten Tag bei ihren Patienten im Tezon saß, betrachtete sie die mit Eisenoxyd an die Wand gemalten Schriftzüge. Es waren nur Ladungsverzeichnisse, nur die Worte für Seide oder Gewürze, Kupfer oder Baumwolle, aber sie erschienen ihr wie die schönsten Sagen der Dichter. Genau wie die Kennzeichen der Schiffe, die hier und da an die Wand gekritzelt worden waren. Diese Zeichen, die sie seit ihrer Kindheit auf den Schiffen ihres Vaters und seinen Ladelisten gesehen hatte, kamen ihr so schön vor wie die tugra, die goldenen kalligrafischen Unterschriften des Sultans.
Es gab sogar die wundervolle Darstellung eines Schiffes osmanischer Bauart – passenderweise auf der Ostseite des Krankenhauses –, das dem glich, mit dem ihr Vater in See gestochen war. Sie erinnerte sich daran, wie sie, kaum älter als acht Jahre, auf der Serail-Spitze gestanden und zugesehen hatte, wie es über den Sund glitt. Das Heimweh traf sie wie eine Faust in den Magen, und sie empfand es als außerordentlich tröstlich, an ihren gelben Pantoffel voller Zechinen zu denken, der sie wieder nach Hause bringen würde.
Am Ende des Tages kannte sich Feyra auf der Insel recht gut aus. Sogar der kleine Friedhof in der Wildnis hinter dem Brunnen war kein verbotener Bereich für sie. In ruhigen Momenten hob sie in kameradschaftlicher Gemeinsamkeit Seite an Seite mit den Schwestern Gräber aus, in schweigendem Respekt für die Dahingeschiedenen, wobei die Angehörigen beider Glaubensrichtungen stumm ihre jeweiligen Gebete formten. Sie holte für die Patienten Wasser aus dem
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