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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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Motetten und Hymnen anstimmen, wann immer sie nicht von ihren Pflichten in Anspruch genommen wurden.
    Und die Musik war nicht immer geistlicher Natur. Feyra fand heraus, was die Lieblingslieder der Patienten waren. Sie entlockte ihnen ihre bevorzugten Volkslieder oder Kinderverse, wenn sie noch sehr jung waren, oder Seemannsweisen, wenn es sich um alte Seefahrer handelte, und ließ sie ihnen von ihren Familien in sicherer Entfernung vorsingen. Manchmal sang sie sogar selbst, während sie ihnen den Puls maß; eine seltsame Melodie, deren Rhythmus immer langsamer wurde. Auf Annibales Frage hin erwiderte sie, dass solche Gesänge den Herzschlag der Kranken regulierten.
    Annibale hielt das alles für Unsinn, aber selbst er musste zugeben, dass es das Herz erwärmte, inmitten der ständigen Gegenwart des Todes Lieder über die Insel schallen zu hören, und er wollte nicht, dass ihre ungewöhnliche Stimme im Tezon verstummte. Außerdem hätte er die Veränderungen sofort unterbunden, wenn er sie medizinisch betrachtet für schädlich erachtet hätte. Aber auch wenn er es Feyra gegenüber nicht zugab, musste er ehrlich zu sich selbst sein: Seit sie auf die Insel gekommen war, war die Anzahl der Totenscheine, die er abends an seinem einsamen Feuer ausfüllen musste, beträchtlich gesunken.
    Doch neben dem Tod gab es auch neues Leben. Kurz nach Feyras Ankunft auf der Insel hatte Valentina, ein frisch verheiratetes Mädchen, begonnen, sich zu übergeben und ohnmächtig zu werden. Der Vogelmann befasste sich nicht mit Frauenbeschwerden, aber Feyra, die die Symptome oft genug beobachtet hatte, wusste, dass sie ein Kind erwartete. Das schwarzhaarige venezianische Mädchen wurde schon sehr jung Mutter, zudem hatte sie eine Wespentaille und kaum breitere Hüften, weshalb Feyra befürchtete, dass es Probleme geben würde, wenn ihre Zeit kam, aber das lag in der Zukunft. Man musste immer optimistisch bleiben.
    Manchmal fragte Feyra sich, wie der Vogelmann wohl aussah, denn sie sah ihn nie ohne Maske. Manchmal sah sie die Maske selbst vor den abgeteilten Nischen liegen, die sie im Tezon geschaffen hatte, und wusste, dass er einen seiner vielen chirurgischen Eingriffe vornahm, bei dem ihn sein Schnabel behindern würde.
    Bei einer dieser Gelegenheiten nahm sie eine der Veränderungen vor, die sie nicht mit dem Arzt besprach. Sie schob die Hand tief in den Schnabel und zog die staubigen alten und ihrer Meinung nach nutzlosen Kräuter heraus. Dann nahm sie ihren Gürtel ab und suchte in Kapseln und Taschen nach den Kräutern, die sie brauchte. Heimlich stopfte sie sie in den Schnabel und rieb Zitronenbalsam in die Nähe der Nase, so wie es vorher gewesen war. Es würde weder nutzen noch schaden, aber hoffentlich den Geruch der anderen Pflanzen überdecken, die sie benutzt hatte. Dann legte sie die Maske genau so zurück, wie sie sie vorgefunden hatte, und floh.
    Feyra nahm an, dass er die Maske in seinem eigenen Haus, das direkt gegenüber von ihrem auf der anderen Seite des Rasens hinter dem Tezon lag, nicht trug. Manchmal brannte dort nachts Licht, ein goldenes Rechteck schwebte in der samtschwarzen Luft. Sie stellte sich vor, wie der Vogelmann über medizinischen Abhandlungen brütete, und beneidete ihn. Es juckte sie in den Fingern, die Seiten eines Buches umzublättern. Sie fragte sich, ob er die Schnabelmaske auch im Bett trug, und musste bei dem Gedanken kichern. Sie fragte sich auch, wie alt er war. Manchmal sprach er wie ein betagter Graubart, aber andere Dinge, die er sagte, klangen so, als wäre er noch recht jung und hätte sein Studium noch nicht lange abgeschlossen. Er unterhielt sich nie mit ihr, sondern erteilte ihr nur knappe Anweisungen und war abgesehen von ihrem medizinischen Wissen nicht an ihr interessiert. In diesem Punkt erinnerte er sie stark an Palladio.
    Sie dachte oft an den Architekten und Zabato und wartete ungeduldig auf Nachricht von ihnen, wenn der Vogelmann am Ende jedes Monats aus der Stadt zurückkam. Er hielt sich an seine Abmachung mit Palladio, besuchte den Architekten an jedem Neumondtag und erzählte Feyra, welchen Eindruck er gemacht hatte, wenn sie fragte, aber nicht mehr.
    Sie fragte sich, ob die beiden je an sie dachten. Palladio hatte sie wegen ihres Wissens über Konstantinopel gern in seiner Nähe gehabt, und für Zabato stellte sie die Erinnerung an die Frau dar, die er einst geliebt hatte. Und jetzt schätzte der Vogelmann sie wegen ihrer medizinischen Kenntnisse. So viele Feyras, so

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