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Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Fiorato
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des Schornsteinkastens.
    Feyra bemühte sich, ihn nicht allzu auffällig anzustarren. Sein Kopf wirkte im Verhältnis zu seinem Körper unnatürlich groß, sodass er wie ein riesiges Baby aussah. Seine Gliedmaßen waren missgebildet, aber er war dennoch erstaunlich beweglich, denn er hatte in dem kurzen Moment, den sie im Wald gewesen war, mehr vollbracht als sie in der gesamten Stunde zuvor. Sie las Furcht und Scheu in seinen Augen, nahm seine kleinen verdrehten Hände in die ihren und sah ihm ins Gesicht. »Danke«, sagte sie.
    Von da an hatte Feyra einen Freund auf der Insel. Wenn es im Tezon nichts zu tun gab, kehrte sie in ihr kleines Haus zurück und saß kameradschaftlich bei Salve, während er Reparaturen erledigte. Im Lauf der nächsten Wochen sprach sie freundlich mit ihm, ohne eine Antwort zu erhalten, und war erstaunt, als er eines Tages etwas zu erwidern begann.
    »Weiß der Doktor, dass du sprechen kannst?«
    »Nein.«
    Sie hörte, dass er das Sprechen nicht gewöhnt war – dass er an einer Verformung der Zunge und des Unterkiefers litt. »Und dein Vater?« Sie hatte den Torhüter beim Brunnen getroffen. Er war freundlich und umgänglich gewesen, aber sie war kaum zu Wort gekommen, so viel hatte er geredet.
    »Gibt … nie … Gelegenheit.«
    Salves Wortschatz war in der Tat begrenzt, aber er war nicht so geistesschwach, wie der Vogelmann dachte. Feyra brachte viel Geduld mit ihm auf, und er begann, mehr zu sprechen. Aber sie bemerkte, dass er in Gesellschaft anderer, sogar in der seines Vaters, weiterhin schwieg, und vor dem Arzt pflegte er sich zu verstecken.
    Wie es aussah, hatte der Vogelmann keine Zeit für die Gemeinschaft auf der Insel. Seine Haltung gegenüber Salve war beispielhaft für sein Verhalten gegenüber der kleinen Nachbarschaft in den Armenhäusern. Er war gerade einmal so weit gegangen, den Leuten zu empfehlen, dass jeder, der es vertragen konnte, Pfeife rauchen sollte, und so gingen Männer und Frauen in ihren persönlichen Rauchwolken umher. Aber ansonsten gab sich der Arzt mit den Familien nicht ab, und die Bewohner der Insel zogen nur dann seine Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie krank wurden.
    Im Lauf der Zeit legte sich Feyras Furcht vor dem Vogelmann, und sie fühlte sich mutig genug, um ihn in diesem Punkt herauszufordern.
    »Warum habt Ihr die Familien hergebracht?«
    Feyra stand neben ihm bei dem großen Arzneischrank an der hinteren Wand des Tezon. Sie stellte die Frage ohne Einleitung.
    Annibale dachte an den Camerlengo, der dasselbe gefragt hatte. »Weil sie sich bei ihren Angehörigen angesteckt haben könnten. Wenn man ein Krebsgeschwür herausschneidet …«
    Aber sie interessierte sich nicht für die Methapher. »Hören sie denn etwas von ihnen?«
    »Bitte?«
    »Hören die Familien«, sie sprach mit ihm wie mit dem Zwerg, »etwas von ihren Angehörigen ?«
    »Nein, natürlich nicht.«
    Sie sah ihn an.
    Annibale hatte gedacht, es würde für ihn eine Erleichterung sein, wenn sie ihr Gesicht bedeckte, aber trotzdem musste er immer noch das ertragen, was er bei sich »den Blick« nannte. Ihre bernsteinfarbenen Augen ruhten dann weder tadelnd noch mitleidig, sondern eher mit einer Mischung aus beidem auf ihm, und »der Blick« flößte ihm immer das Gefühl ein, sie auf irgendeine Weise enttäuscht zu haben. Er fühlte sich bemüßigt, sich zu verteidigen. »Glaubst du, ich habe Zeit, um …«
    »Ich habe die Zeit. Und die Schwestern auch.«
    Innerhalb einer Woche hatte sie alles arrangiert.
    Sie hatte großes Interesse an einem Brief vom Consiglio della Sanità gezeigt, den Bocca ihm gebracht hatte. Der Inhalt – dass alle neu entwickelten Mittel gegen die Pest registriert werden mussten und man verpflichtet war, ihre Zusammensetzung dem Consiglio mitzuteilen – hatte keine Bedeutung für sie. Aber sie betrachtete das Papier über seine Schulter hinweg. Ihre Nähe verursachte ihm Unbehagen.
    »Warum ist er so verfärbt?« Sie deutete darauf. »Und warum ist dort ein weißer Fleck?«
    Er blickte auf die entsprechende Stelle. Der Brief war von einem offiziellen Sekretär verfasst worden, und diagonal über das braun gesprenkelte Papier verlief ein langes Rechteck, das seinen ursprünglichen Alabasterton behalten hatte. Die Tinte schimmerte pechschwarz. »Er ist geräuchert worden«, erwiderte er. »Das ist in Seuchenzeiten an der Tagesordnung, damit die Pest nicht mit der Post von einem sestiere zum nächsten getragen wird. Siehst du, hier sind zwei Siegel …« Er

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