Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Brunnen, in den sie ihr Kreuz hatte fallen lassen, und war von der Klarheit dieses Wassers beeindruckt. Sie blickte den steinernen Löwen an, der ihren Blick erwiderte, aber seltsamerweise hatte sie hier, auf dieser Insel, keine Angst vor ihm. Sein Maul war so geschlossen wie sein Buch. Es war der offene Rachen, den sie fürchtete; das aufgesperrte Maul, das vergiftete Briefe verschlingen konnte.
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer sie verraten haben könnte. Der Vogelmann war es nicht gewesen. Und außer Palladio und Zabato hatte kein Mitglied von Palladios Haushalt ihre wahre Identität gekannt. Hatte Corona Cucina aus ihren Arzneien und ihrem Akzent die richtigen Schlüsse gezogen? Das erschien ihr zu sehr aus der Luft gegriffen, um wahr zu sein. Und wie lange würde es dauern, bis sich die Kunde von ihrer Anwesenheit auf der Insel auf dem Festland verbreitete? Wenn der Camerlengo und seine Männer fest entschlossen waren, sie zu finden, wie lange würden sie dann brauchen, um auf den Gedanken zu kommen, hier zu suchen?
Feyra achtete für den Rest des Tages darauf, möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen, während sie ihrer Arbeit nachging. Der einzige Ort, den sie mied, war die Kirche. Sankt Bartholomäus war der christliche Heilige, nach dem der damaszenische Baum benannt worden war, dessen Sporen ihre Mutter vergiftet hatten, und aus diesem und aus noch einem anderen Grund würde sie keinen Fuß in dieses Gebäude setzen.
Doch ebenso entschieden, wie Feyra sich weigerte, die Kirche zu betreten, wollte jemand anderes sie um jeden Preis von ihr fernhalten.
»Sie kann nicht mit uns zusammenwohnen.«
Am Ende von Feyras erstem Tag auf der Insel fing die Badessa Annibale ab. Er schob seinen Schnabel kampfeslustig vor und schüttelte den reinigenden Rauch aus den Falten seines Umhangs.
»Warum nicht?«, wollte er wissen, obwohl er die Antwort schon kannte.
»Sie ist eine Ungläubige.«
Annibale seufzte. Es wäre so eine naheliegende Lösung gewesen. Die Nonnen bewohnten alle das Zollhaus hinter der Kirche, das über einen großen Raum im Obergeschoss verfügte. »Aber sie würde ja nicht in der Kirche selbst wohnen. Davon war nie die Rede.«
»Das ist egal. Dieses Haus zählt zu den Kirchengebäuden. Sie kann nicht in unserer Mitte leben.« Die Badessa berührte seinen Arm. »Ich werde ihr eine Freundin sein. Ich versuche, mich wie eine Samariterin zu verhalten, wie unser Herr es uns lehrt. Falls es Euch aufgefallen ist – ich habe ihr Tücher für ihren Kopf und Sandalen für ihre Füße gegeben. Aber sie darf weder in unserem Schlafsaal schlafen noch unsere Kirche betreten. Wenn Ihr sie fragen würdet, würde sie das wahrscheinlich auch gar nicht wollen.«
Als die Sonne unterging, zeigte Annibale Feyra die kleine Hütte neben der Kirche. Es handelte sich um das Haus, das unter Kanonenbeschuss genommen worden und so baufällig war, dass er es als Unterkunft für eine Familie oder sich selbst abgelehnt hatte. Er gab sich besonders kurz angebunden und teilte ihr, bevor er ging, mit, dass es hier einen schwachsinnigen Jungen gab, der einige Reparaturen ausführen würde. Dann überquerte er den Rasen, rief nach Salve und befahl ihm barsch, Material und Werkzeuge zu holen und das Dach zu flicken. Er sah, wie Feyra ihren Wortwechsel von der Türschwelle ihrer kleinen Ruine aus verfolgte. Sie sah ihn an, sagte aber nichts.
Feyras Hütte erinnerte sie stark an das kleine Torhaus, in dem sie ihren Vater verloren hatte. Oben schimmerte ein gezacktes Stück blauen Himmels durch das Dach, und sie wusste, dass sie ihr Bett unten herrichten sollte, bevor die Nacht hereinbrach. Sie zerrte die Matratze nach unten, aber der Anblick ihres Lagers neben der steinernen Türeinfassung glich dem Sterbebett ihres Vaters noch mehr. In den Überresten des Dachgesimses gab es sogar auch ein Starennest, das sie vorsichtig anhob und zu dem Schlehdornwald hinübertrug. Sie bemerkte, dass der Vogelmann sie beobachtete, als sie mit dem Nest in den Händen über den Rasen ging, aber sie ignorierte ihn geflissentlich.
Als sie zurückkam, war ihr Bett im unteren Raum näher an den Kamin herangerückt und die Decke ordentlich gefaltet worden. Im Kamin brannte ein kleines Feuer. Die dünnen Äste waren kegelförmig aufgestapelt und rauchten bereits wie ein Vulkan. Ein breites Stück Leinwand war zum Schutz vor Zugluft vor dem unverglasten Fenster befestigt worden, und ein kleiner, körperlich missgestalteter Mann stand im Schatten
Weitere Kostenlose Bücher