Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
wo sie jeden Tag ihre Kämpfe ausfochten, und sie konnte der Herausforderung nicht widerstehen. Valentinas Vater lag innerhalb dieser Mauern und erholte sich von seinem eigenen Kampf gegen die Pest, daher sagte sie boshaft: »Und vielleicht werdet Ihr mir jetzt zustimmen, dass der alte Gianluca Trianni von der Geburt seines kräftigen Enkels erfahren sollte? Dass diese Nachricht ihm mehr helfen wird als alle Mittel, die wir ihm geben können?«
Der Vogelmann musterte sie über seinen Schnabel hinweg. »Und vielleicht wirst du mir zustimmen, dass das bis zum Morgen Zeit hat? Denn sogar du musst einräumen, dass Doktor Schlaf ein besserer Arzt ist als Doktor Gute Nachrichten.«
Feyra neigte lächelnd den Kopf. Sie sah sein vom Feuerschein vergoldetes Fenster vor sich, so wie sie es schon hundert Mal gesehen hatte. Ihr eigenes Haus war dunkel. Sie wollte nicht heimgehen, noch nicht. Vor seiner Tür blieben sie in schweigender Übereinkunft stehen.
»Möchtest du nicht kurz mit hineinkommen?«
Diesmal nahm er seine Maske ab, als wäre das eine Erleichterung für ihn. Sie revidierte ihre frühere Meinung – er versteckte sich nicht dahinter, sondern sie war ihm lästig. Sie blickte ihn erneut an. Das war er, ihr Vogelmann. Nein, Annibale, denn in dieser Nacht hatte sie seinen Namen erfahren, allerdings nur, weil Luca Trianni dem Dottore hatte danken wollen, indem er seinen neugeborenen Sohn nach ihm benannte. Sie fand es schwierig, sich daran zu gewöhnen. Annibale. Es würde sie wundern, wenn er älter wäre als sie. Wenn sie sich gegenüberstanden, waren sie genau gleich groß, und sie konnte ihm in die Augen sehen. Er wirkte müde, aber beschwingt.
»Setz dich«, sagte er. »Du trinkst wohl keinen Wein?«
Sie schüttelte den Kopf.
Er goss sich selbst welchen ein und deutete auf den Stuhl auf der anderen Seite des Kamins, und sie ließ sich erschöpft darauf sinken.
Dann hob er sein Glas und trank ebenso auf sich als auch auf das Baby. »Auf Annibale.«
Als Feyra in sein Haus gestürmt war, hatte er verdrossen in die Flammen gestarrt und zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl gehabt, mehr abgebissen zu haben, als er kauen konnte. Er war so sicher gewesen, dass sein Krankenhaus ein Erfolg werden würde, aber die Pest gewann an Boden. In der letzten Zeit hatte es mehr Todesfälle gegeben, als der kleine Friedhof fassen konnte, und er spürte, dass er die Oberhand verlor. In seinem langen Kampf mit dem Tod schien sich dieser auf der Siegerstraße zu befinden. Dann hatte ihm dieses außergewöhnliche Mädchen seinen chirurgischen Triumph beschert.
Natürlich war die Gefahr für Valentina Trianni noch nicht gebannt. Die Operation war ein größerer Eingriff gewesen, und es konnte leicht zu einer Sekundärinfektion kommen, aber er, Annibale Cason, hatte eine non natus -Operation durchgeführt, und bislang waren Mutter und Kind am Leben. Er gab zu, dass er sich nicht allzu viele Gedanken um die junge Mutter machte. Feyra interessierte ihn viel mehr. Er betrachtete sie im Feuerschein. In dieser Nacht hatte sie ihm seinen Glauben an die Medizin, seinen Glauben an sich selbst zurückgegeben. Er wollte sich dafür erkenntlich zeigen.
Er registrierte ihre zimtfarbene Haut und die bernsteinfarbenen Augen, in denen sich das Feuer widerspiegelte. Sie sah ihn unverwandt an, und wieder spürte er die Macht ihres Blicks. Heute Nacht schien sie ihn zu bewundern, und das wärmte ihn noch stärker als das Feuer.
»Ihr seid also Annibale.«
»Ja, Annibale. Annibale Cason, Dottore della Peste.«
Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. »Was bedeutet Euer Name?«
»Ich habe keine Ahnung«, fauchte er. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er seinen vollen Titel angegeben hatte.
»Meiner bedeutet ›Gerechtigkeit fließt aus meinem Mund‹«, erklärte sie.
Der Name passte zu ihr, dachte Annibale, denn ihr Mund war besonders schön, voll und rot, und die Oberlippe war eine Spur größer als die untere.
Sie blickte wieder in die Flammen. »In meinem Land ist die Bedeutung des Namens alles. Wir überlegen uns sehr gründlich, wie wir ein Kind nennen. Für meinen Glauben ist das äußerst wichtig. Es wundert mich, dass ihr Venezianer nicht wisst, was eure Namen bedeuten.«
Annibale streckte die Beine aus, bis seine Stiefel fast das Feuer berührten. »Da gibt es nicht viel zu wissen. Wir werden hauptsächlich nach Heiligen und Tagen benannt.«
Heilige und Tage. Als sie den sich aufhellenden Himmel betrachtete, fiel ihr
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