Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
Kanäle, stehende Wasserwege, die so schmal waren, dass die Sonne sie erst mittags beschien. Der Weg stellte eine beträchtliche Abkürzung dar, doch der Camerlengo, der im Bug saß, vibrierte innerlich vor Ungeduld.
Bei Tre Archi ging er wortlos hinter dem Gondoliere her. Der Pestrauch wehte um seine Füße. Unter einem kleinen sotoportego in einem ärmeren Bezirk des quartiere sah er zu, wie der Mann die Türen zum Haus seines Kollegen abzählte. »Zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn …«
Die Stimme des Mannes erstarb. Nummer fünfzehn war mit einem Holzbrett versperrt, und auf der Tür leuchtete ein rotes Kreuz.
Der Camerlengo schwieg einen Moment lang. Dann befahl er den Wächtern mit ruhiger, beherrschter Stimme: »Befragt die Nachbarn. Du«, er wandte sich an den ersten Mann, »nimmst die Sechzehn. Und du«, er drehte sich zu dem zweiten um, »die Vierzehn.«
Wenig später kamen sie zurück.
»Er ist gestorben«, berichtete der eine.
»Letzte Nacht«, fügte der andere hinzu.
Der Gondoliere wich vor der Wut zurück, die in den Augen des Camerlengo aufflackerte, doch dessen Hand schoss vor und packte den Mann am Kragen. Mit einer fließenden Bewegung hob er das Brett an, trat die Tür auf, schleuderte den Gondoliere in das pestverseuchte Haus und verriegelte die Tür hinter ihm.
29
Von diesem Tag an waren Annibale und Feyra Freunde. Wenn sie abends ein letztes Mal nach den Patienten gesehen hatten, reinigten sie sich, verließen das Tezon und gingen zu Annibales Haus zurück.
Feyra fiel manches an ihm auf – die Art, wie er die Stimme hob, wenn er aufgeregt war, oder wie seine Nasenflügel leicht bebten, wenn er sprach. Sie bemerkte auch, dass er etwas an einer Kette um den Hals trug, so wie sie den Ring ihrer Mutter, und sie fragte sich, ob er auch ein Andenken an seine Mutter in Ehren hielt. Morgens erschien Feyra mit verquollenen Augen im Tezon und gähnte hinter ihrem Schleier, weil sie jeden Abend später und später in ihr eigenes Haus zurückkam. Manchmal überquerte sie sogar erst im Morgengrauen die Rasenfläche, wobei sie von einem einzigen Augenpaar beobachtet wurde: den alten Augen der Badessa, die die Kirche für die Matutin öffnete.
Es kam Annibale nicht in den Sinn, dass ihre Treffen Feyra kompromittierten. Für ihn stellten diese Abende ein berufliches Arrangement dar. Daher fertigte er die Badessa barsch ab, als sie ihn darauf hinwies, dass es unschicklich war, so viel Zeit alleine mit Feyra zu verbringen. »Wir arbeiten abends. Wir sprechen über medizinische Angelegenheiten. Wir bereiten unsere Tränke und Salben zu. Wann sollen wir diese Dinge denn sonst tun – tagsüber? Es ist genau so, als wenn sie ein Mann wäre.« Aber er glaubte dies ebenso wenig wie die Badessa. Die Wahrheit lautete, dass die Abende mit Feyra der beste Teil seines Tages waren.
Feyra kochte ein einfaches Abendessen. Die Zutaten bestanden nur aus dem, was in Treporti gekauft werden konnte oder auf der Insel wuchs, aber die Art der Zubereitung und die Gewürze, die sie verwendete, waren neu für Annibale. Danach schenkte er sich ein Glas Wein ein, und sie saßen am Feuer. In stummer Übereinkunft trug keiner von ihnen seine Maske. Feyra legte ihren Schleier ab, so wie sie es im Haus ihres Vaters getan hatte, und Annibale hängte seinen Schnabel neben die Tür. Dann diskutierten sie über medizinische Fragen oder über Kräuter. Feyra lehrte Annibale, wie man die sirupartigen Sorbets und süßen Getränke mit Pfefferminze oder die ma’cun genannte teigige Paste zubereitete. Manchmal stellten sie auf dem großen Fleischerblock, den Annibale eigens zu diesem Zweck erstanden hatte, auch Salben her.
Und sie studierten zusammen medizinische Abhandlungen, wobei Annibale Feyra half, wenn sie über das Lateinische stolperte. Sie registrierte interessiert, dass die unglaublich detailgetreuen anatomischen Zeichnungen in einem Buch, das Annibale ihr zeigte, von demselben Leonardo aus Vinci stammten, der auch den vitruvianischen Mann gezeichnet hatte. Im Gegenzug erzählte sie ihm von den Werken des großen osmanischen Arztes Serafeddin Sabuncuoglu und den aqrabadhin -Lehrbüchern in der Bibliothek des Topkapi. Als sie das kostbarste und am sorgfältigsten gehütete Manuskript im Sultanspalast erwähnte – Al-manhaj al-sawi, Jalal al-Din al-Suyutis meisterhafte Umsetzung der in den Worten des Propheten ausgedrückten medizinischen Details –, stellte sie erfreut fest, dass ihm dieses Buch nicht unbekannt war. Wie
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