Die Heilerin von San Marco: Historischer Roman (German Edition)
es aussah, befasste man sich in Padua auch mit der Medizin aus fremden Ländern.
Feyra berichtete ihm von den sechs nicht natürlichen Bestandteilen, die im menschlichen Leben das Mizan, das Gleichgewicht, ausmachten. »Licht und Luft«, sagte sie, die Grundpfeiler der Gesundheit an den Fingern abzählend, »Essen und Trinken, Arbeit und Ruhe, Schlaf und Wachzustand, Exkretion und Sekretion, wozu auch«, sie hüstelte leicht, »Bäder und Geschlechtsverkehr gehören, und schließlich die Veranlagung und der Zustand der Seele.«
Annibale antwortete mit der Ausgewogenheit der vier Körpersäfte; ein Thema, bei dem sie zu einer gewissen Übereinstimmung gelangten – schwarze Galle, rotes Blut, helle Galle und fahler Schleim, die für das melancholische, das sanguinische, das cholerische, und das phlegmatische Temperament standen. Einen Moment lang meinte sie, eine Verbindung von enormer Bedeutung zwischen den Körperflüssigkeiten und den vier Pferden zu erkennen, die ihre Mutter ihr beschrieben hatte. Sie waren gleichfalls schwarz, rot, weiß und fahl. Sie fragte Annibale, ob er je von vier Pferden in diesen Farben gehört oder in einem seiner vielen Bücher davon gelesen hatte, doch er zuckte nur die Achseln. »Als Kind in der Kirche vielleicht. Aber seither habe ich mit der Bibel nicht mehr viel zu schaffen. Ich erinnere mich nur, dass es hieß, sie würden den Tod bringen.« Das Gespräch hinterließ bei Feyra ein Gefühl des Unbehagens. Wie um das Böse fernzuhalten, berührte sie den Ring in ihrem Mieder.
Als sie vertrauter miteinander wurden, schnitten sie auch andere Themen an. Feyra beging ihrer Mutter gegenüber keinen Vertrauensbruch, aber sie erzählte Annibale von ihren Eltern, und allmählich begann er auch über die Mutter zu sprechen, die ihn im Stich gelassen hatte. Diese Frau hatte ihn offenbar so verletzt, dass seine äußere Hülle zwar gesund und ansprechend, seine Seele jedoch kränker war als jeder Patient im Tezon. Feyra fand den Grund dafür rasch heraus.
»Sie war eine Kurtisane?«
»Nein«, wehrte er heftig ab. »Anfangs nicht. Mein Vater war ein Edelmann aus Venedig, und als er starb, ließ sie mich – einen kleinen Jungen – in der Obhut meiner Tanten zurück. Während ich zwischen fünf und zwanzig Jahre alt war, sah ich sie nur sporadisch. In all den Jahren tauchte sie nur für einen Tag oder zwei auf. Dann sah sie sauber und ordentlich aus, war nüchtern. An ihrem Benehmen gab es nichts auszusetzen, sie legte untadelige Manieren an den Tag und erdrückte mich fast mit Liebe. Und am nächsten Tag, wenn sie einen neuen Gönner gefunden oder sämtlichen Wein im Haus ausgetrunken hatte, machte sie sich wieder davon. Häufig wussten wir nur, dass sie verschwunden war, weil eine meiner Tanten ein paar Münzen, eine juwelenbesetzte Brosche oder einen Perlenkamm vermisste. Dann seufzte sie und sagte: ›Columbina ist wieder fort‹, und ich suchte das ganze Haus nach ihr ab und stellte unweigerlich fest, dass sie ohne ein Wort oder eine Nachricht für mich gegangen war.« Annibale schwieg einen Moment. Der Feuerschein flackerte über sein ernstes Gesicht.
»Als ich ein kleiner Junge war, habe ich tagelang geweint«, fuhr er fort. »Ich konnte nicht begreifen, wie jemand, der mich mit Küssen und Liebe überschüttet hatte, sich einfach so aus dem Staub machen konnte. Ich roch dann immer ihr Parfüm, es hing noch Tage nach ihrem Verschwinden im Haus.« Er lachte bitter. »Es blieb länger dort als sie.«
»Hast du sie vermisst?«, bohrte Feyra sanft nach.
»Als Junge schon. Als ich erwachsen wurde, kümmerte es mich nicht mehr.«
Feyra erwiderte nichts darauf, sondern fragte sich, ob das wirklich stimmte. »Wann hast du sie zuletzt gesehen?«
»Während meines ersten Jahrs in Padua. Sie kam in meine Kammer und erzählte mir, wie stolz sie auf mich wäre, drückte mich an ihre Brust und bezauberte alle meine Bekannten. Sie entschuldigte sich für ihre lange Abwesenheit und versprach, dass wir noch ein Mal ganz von vorne anfangen würden, dass sich alles ändern und sie eine vorbildliche Mutter sein würde.«
»Und was geschah?«
»Am nächsten Tag war sie verschwunden. Zusammen mit meinen silbernen Skalpellen.«
Feyras Mutter war zur Königin und Herrscherin aufgestiegen, während Annibales Mutter wieder in der Gosse gelandet war, aber sie wusste, dass der Unterschied zwischen der Konkubine, die ihre Mutter gewesen war, und der Kurtisane, die seine war, gar nicht so viel ausmachte.
Weitere Kostenlose Bücher