Die Heilerin
über sich, Mirjam wieder auf die kalte Schlafstelle zu legen, und nahm das Kind mit zu sich. Zufrieden legte das Kind den Kopf auf Margarethas Schulter und schlief daumennuckelnd ein. Sanft strich sie dem Kind über das feine Haar. So war sie oft mit Eva im Arm eingeschlafen. Der Gedanke an ihre tote Schwester schmerzte sie. Es schien eine Ewigkeit her zu sein und nicht erst ein paar Jahre, seit Eva gestorben war.
Margarethas Gedanken wanderten zu Pastorius. Er hatte die Familien hierher gelockt, ihnen eine bessere, eine sichere Zukunft versprochen. Jetzt schien er selbst verunsichert zu sein. Vor ein paar Monaten in Krefeld waren seine Worte klar und seine Absichten rein gewesen. Er hatte sich immer auf die Verträge mit Penn berufen, doch nun ließ Penn sie im Stich – Pastorius genauso wie die Krefelder Familien.
Franz Daniel trifft keine Schuld, dachte Margaretha nachdenklich. Penn ist das lose Glied in der Kette, schlimmer noch, eigentlich sollte er der Anker sein. Verzweiflung bemächtigte sich ihrer, während draußen der Regen gegen die dünnenBretter des Lagerhauses peitschte und die Kälte vom Boden hochkroch. Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf, träumte von dem Bären und wachte angsterfüllt auf.
Das Unwetter war vorbei, die Umgebung sah wie frisch gewaschen aus. Die Blätter leuchteten in vielen Farben, der Himmel strahlte, und das Gras auf der Wiese schien zu dampfen. Margaretha ging zum Bach, um frisches Wasser zu holen. Sie blieb einen Moment stehen, sog die Luft tief ein und schloss die Augen. Im Sonnenlicht war alle Angst vor den Raubtieren wie weggewischt.
»Es ist schon komisch, wie wunderbar sterbende Blätter sein können«, sagte plötzlich jemand neben ihr.
Margaretha fuhr erschrocken zusammen und riss die Augen auf.
»Guten Morgen, Margret.« Pastorius lächelte sie an.
»Franz Daniel, wo kommt Ihr denn so plötzlich her und was meint Ihr mit den Blättern?«
»Nun ja, die Blätter sterben ab. Aber vorher verfärben sie sich. Zum Teil sieht es so aus, als würde der Wald brennen und lodern. Ein solches Rot habe ich noch nie zuvor gesehen.«
»Das ist Ahorn«, murmelte Margaretha. »Im Frühjahr kann man einen süßen Saft aus der Rinde gewinnen. Außerdem soll die Rinde gut gegen Durchfall wirken und gegen Entzündungen.« Sie lachte leise. »Aber Ihr habt recht, solche Farben gibt es zu Hause nicht.«
»Zu Hause«, wiederholte er nachdenklich und schien auf den Worten herumzukauen. »Ihr fühlt Euch hier immer noch nicht wohl?«
»Hier?« Margaretha drehte sich um und schaute zu dem Lagerhaus. »Nein.« Sie schluckte, zog die Stirn kraus. »Franz Daniel, Ihr seid zwar jeden Tag bei uns, doch des Abends geht Ihr in Euer Haus. Wir jedoch schlafen und hausen alle zusammen in diesem Schuppen. Es ist kalt, nass, unruhig. Der Wind pfeift durch die Bretter, das Dach ist nicht dicht, und nirgendwo gibt es eine Rückzugsmöglichkeit. Wir können nur wenigeunserer Sachen gebrauchen, weil wir keinen Platz haben, um unsere Habseligkeiten auszupacken. Wir haben weder Tisch noch Stühle, geschweige denn Betten. Es gibt keine Öfen, keinen Kamin, nur offene Feuerstellen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich fühle mich hier nicht zu Hause, keiner der anderen tut es.« Margaretha holte tief Luft und stemmte die Hände in die Hüften. »Ward Ihr bei Mijnheer Penn, und habt Ihr etwas erreicht?«
Pastorius sah sie verlegen an. »Margret, es tut mir so leid. Ich weiß ob Eurer Verhältnisse hier, und glaubt mir, ich gehe jeden Abend mit einem schlechten Gewissen in mein Haus. Mich dauert es, Euch nicht alle mitnehmen und bewirten zu können – aber das kann ich nicht. Und wenn ich wählen sollte, wo fang ich da an? Beim Schwächsten und Ärmsten? Und was mache ich mit dem Zweitschwächsten? Dem Zweitärmsten? Müsste ich nicht Euch alle mitnehmen? Das kann ich nicht. Aber eins weiß ich jetzt sicher und gewiss – ich werde mit Euren Brüdern und Eurer Glaubensgemeinschaft zusammenbauen und siedeln!«
»Und wo? Habt ihr Antwort von Mijnheer Penn?«
»Ja, ich habe Penn gestern noch einmal aufgesucht und gesprochen. Er hat Land gefunden, das er Euren Brüdern und den anderen Siedlern zuteilen will. Er akzeptiert die Verträge, die wir geschlossen haben.« Pastorius senkte den Kopf, und Margaretha wurde klar, dass er einen harten Kampf ausgetragen hatte. Plötzlich weitete sich ihr Herz für den Advokaten, der, genau wie sie alle, aus dem fernen Land hierher gekommen war, und der,
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