Die Heilerin
der die Kirche umgab. Die Wolken schienen sich an der Kirchturmspitze verfangen zu haben, es wurde immer düsterer, ein eisiger Wind kam auf, der in die Haut schnitt. Die Grabsteine standen wie stumme Mahnmale da. Margaretha erschauderte.
»Eva?«, rief sie mit dünner Stimme, den Griff der Pforteimmer noch fest in der Hand. Die Stille, die über dem Kirchplatz lag, war keine beruhigende, sanfte Stille. Irgendwo hier schien das Böse zu lauern.
Ach, du dumme Gans, schalt sich Margaretha, die Toten ruhen und werden dir nichts tun. Sie ließ den Griff los, ging ein paar Schritte den Weg entlang. Rechts und links von dem schmalen Pfad reihten sich die Gräber bis zur Mauer. Der Wind fegte die dünne Schneeschicht von den Gräbern und vom Weg. Im Dämmerlicht konnte Margaretha noch Fußspuren erkennen, aber nicht, ob dort ein Kind gelaufen war.
»Eva?« Sie lauschte, doch Eva antwortete nicht. Der Wind heulte immer stärker um das hohe Gebäude, fing sich in den Erkern und Spalten. Es klang wie ein unheimlicher Gesang, die Winterlitanei, dass nie wieder etwas blühen oder sprießen würde.
»Evchen? Eva?«
Margaretha ging weiter, schaute die Gräberreihen entlang, spähte unter die Büsche. Der Pfad führte um die Kirche herum. Irgendwo knackte es, raschelte. Margaretha blieb stehen, kniff die Augen zusammen. Bald würde sie ohne Licht nichts mehr sehen können. Aber sie hatte weder eine Kerze noch eine Fackel. Wieder raschelte es, dann sprang eine Katze aus dem Busch, fauchte, miaute gellend und verschwand im Dunkeln.
Margaretha kauerte sich zusammen, der Schreck war ihr in die Glieder gefahren, Tränen stiegen in ihre Augen, und wie ein Kloß saßen die Angst und Verzweiflung in ihrer Kehle. Mühsam holte sie Luft, zwang sich, ruhiger zu atmen.
Es war nur eine Katze, sagte sie sich, eine Katze, nicht mehr.
Plötzlich hörte sie ein leises Wimmern. Was war das? Hatte sie eine Katzenmutter aufgestört, die hier ihren Wurf großzog? Das war unwahrscheinlich. Um diese Zeit hatte keine Katze mehr Kitten. Und selbst wenn sie spät geworfen hätte, hätte die Kätzin ihren Wurf zurückgelassen und nicht versuchtaufzuziehen. Bei dem harten Winter war es unmöglich, und Tiere spürten so etwas. Aber vielleicht war es für das Tier das erste Mal und sie versuchte dennoch, ihre zu spät geborenen Kinder aufzuziehen? Möglicherweise war sie deshalb so wütend gewesen. Vorsichtig schaute Margaretha unter das Gebüsch, doch dort waren keine Kätzchen, nur der blanke Boden und eine halb verweste Krähe.
Wieder nahm Margaretha das leise Wimmern war, es kam aus einer Ecke hinter der Kirche, meinte sie. Langsam stand sie auf, ging den Pfad entlang dorthin. Das Wimmern war nun deutlicher zu hören. An dieser Stelle stieß die Wand der Kirche an die Mauer des Kirchhofs. Die Ecke war duster.
»Eva?«
Kein Kind antwortete, keine Kinderstimme rief, nur ein hohes Wimmern, wie es auch verletzte Tiere ausstoßen, hörte Margaretha. Unschlüssig blieb sie stehen. Ein kranker Hund, ein Marder, eine verletzte Katze konnten, in die Ecke gedrängt, sehr böse werden.
»Eva? Evchen? Bis du es? Ich bin’s, Margret …« Sie stockte. »Eva?«
Das Wimmern verstummte, nur um kurz darauf eine Tonlage höher wieder einzusetzen. Das ist kein Tier, dachte Margaretha, der sich die Nackenhaare sträubten, das ist ein Mensch. Aber das kann nicht Eva sein, sie hätte doch geantwortet.
»Ist da wer?«
Der Wind verstärkte sich, zischend fuhr er zwischen Kirche und Mauer, wirbelte Laub und Schnee auf. Margaretha fror nicht nur vor Angst. Sie tastete sich an der Kirchwand entlang, der raue Stein rieb sich in ihre kalten Handflächen. Schritt für Schritt tastete sie sich vor.
»Eva?«, wisperte sie. Der Name wurde zu einer Wolke vor ihrem Mund. Da war etwas, eine kleine Gestalt? Oder doch nur ein Gebüsch, das im Winde erzitterte?
»Eva?«
Das Kind kauerte in der Ecke, wo die Kirchenwand an die Friedhofsmauer stieß. Erschrocken presste es die Hände vor das Gesicht, die Ellbogen an den Körper gepresst, die Knie angezogen.
»Eva! Evale!« Margaretha sank neben ihr zu Boden, zog das unterkühlte und verängstigte Kind in ihre Arme. »Liebes, wir haben dich so gesucht. Komm zu mir.«
Eva sträubte sich gegen die Umarmung, schlug gegen Margarethas Hände, wimmerte, weinte.
»Nun, nun. Liebchen, ich bin es, Margret. Deine Schwester. Herzchen, alles wird gut. Komm, ich bring dich nach Hause. Zur Mutter.«
Das Kind gab die Gegenwehr auf, ließ
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