Die Heilerin
bis die Stände abgebaut waren, um sich dann am Abfall und Liegengebliebenen zu bedienen. Andere feilschten verbittert um Reste und versuchten nun, die Preise zu drücken. Hühner gackerten aufgeregt in ihren Käfigen, Gänse, denen der Hals noch nicht umgedreht worden war, schnatterten lauthals. Der Geruch von Fisch, Kohl und Exkrementen lag über dem Markt. Die Wolken zogen sich immer mehr zu, und der Marktwächter trieb alle zur Eile an. Er wollte den Platz geräumt haben, bevor das Unwetter losging.
Margaretha eilte los, lief durch die Menschen hindurch, schaute nach beiden Seiten. Sie suchte nach Eva, die mit ihrem runden Kopf und den mandelförmigen Augen, ihrem immerwährenden Lächeln eigentlich sofort auffiel. Aber sie konnte sie nicht entdecken. Verzweifelt erreichte Margaretha den Brunnen und sah ihren Bruder schon von weitem. Sein Gesicht war zorngerötet, er hielt Annemieke am Kragen und redete auf sie ein. Neben ihr stand Wilhelm, der Knecht der Familie Floh. Margaretha stieß den Atem erleichtert aus, dann schaute sie sich um. Wo war Eva? Sie konnte die Schwester nicht entdecken. Hastig lief sie zu dem großen Brunnen auf der Mitte des Marktplatzes.
Kapitel 7
»Wo ist Eva?«
»Weg«, zischte Dirck verbittert.
»Was?« Margaretha schüttelte den Kopf.
»Ich … sie war bei mir und dann … ich weiß nicht, wie es passieren konnte … ich habe ihr gesagt, sie soll meinen Mantel festhalten, und das hat sie auch getan, immer. Aber auf einmal war sie weg. Ich such sie schon die ganze Zeit, kann sie aber nicht finden. Sie muss hier sein.« Tränen liefen Annemieke über die Wangen, sie schaute ganz verzweifelt aus.
»Du hast sie einfach neben dir laufen lassen? Ohne sie an der Hand zu führen?« Dirck schüttelte wütend den Kopf. »Wie konntest du? Du weißt doch, wie hilflos sie ist.«
Annemieke zuckte zusammen. »Ich … aber …«
»Nun komm, Dirck. So machen wir es immer mit Evchen. Sie hat den Mantel festzuhalten und uns zu folgen. Wie sollten wir sonst einkaufen?«, wandte Margaretha ein. »Beruhige dich, Annemieke. Wann hast du sie zuletzt gesehen und wo?«
Annemieke schwieg, den Kopf gesenkt, und presste die Hände auf den Mund.
»Es muss so zwei, drei Stunden her sein …«, sagte schließlich Wilhelm leise. Er räusperte sich, schaute auf seine Stiefelspitzen und hob den Kopf nicht an. »Wir hatten uns dort drüben getroffen, an der Ecke vom Rathaus, und sind dann Richtung Kirche gegangen. Am Quartelnmarkt war das Kind noch bei uns … aber dann plötzlich nicht mehr.«
»Zwei, drei Stunden? Am Quartelnmarkt? Das ist ja ganz woanders, das ist ja in der neuen Stadt. Fast am Obertor. Seid ihr des Wahnsinns?«, schrie Dirck. Er ließ von Annemiekes Mantel ab, sah Margaretha an, das Entsetzen stand ihm in den Augen.
»In der neuen Stadt leben die Armen«, flüsterte Margaretha erschüttert.
»Los!« Dirck fasste ihre Hand, zog Margaretha mit sich.Sie achteten weder auf Händler noch auf andere, rannten an allen vorbei, rempelten, schubsten.
Atemlos erreichten sie den Quartelnmarkt hinter dem Friedhof der Kirche. Hier war es still und ruhig. Der Gestank von Abfall und Fäkalien lag über dem Viertel, aus den Kaminen stieg stinkender Qualm. Hier wurde verbrannt, was da war. Duftende Wacholderzweige hatten diese Familien nicht. Irgendwo weinte ein Kind, ein Hund bellte, aber ansonsten war nichts zu hören. Keine Webstühle klapperten hier, kein Tischler hämmerte oder sägte. Hier wohnten die Tagelöhner und ihre Familien, die Arbeiter, die froh um jede Tätigkeit waren. Der Straßenzug war schmal und eng.
»Eva! Evchen!«, rief Dirck laut. Seine Stimme hallte in der Gasse, doch nichts rührte sich, nur der Hund bellte lauter, und ein anderer schlug mit ein.
»Hier ist sie nicht«, sagte Margaretha leise.
»Irgendwo muss sie sein.« Dirck stülpte die Lippen vor, biss sich auf die Innenseite der Wange. »Verdomme.«
»Geh du die Straße runter, ich schau am Platz und an der Kirche.«
»Wirklich?« Dirck sah sie nachdenklich an. »Hast du keine Angst alleine?«
»Doch, aber es geht um Eva.« Margaretha drehte sich um und stapfte los. Die Angst, die in ihrem Magen saß und rumorte, verdrängte sie. Eva war hier irgendwo, sie musste hier sein. Margaretha lief um den Kirchhof herum, aber von dem Kind war nichts zu sehen. Schließlich öffnete sie die Pforte zum Kirchhof. Die Tür quietschte in den Angeln und ließ sich nur schwer öffnen. Bisher war sie noch nie auf dem Friedhof gewesen,
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