Die heilige Ketzerin: Historischer Kriminalroman (German Edition)
den Dämonen der Vergangenheit. Ihr Atem ging stoßweise. Sie beugte sich vor, krümmte sich, als hätte sie Krämpfe. Aber ihr Blick hing gebannt am Kruzifix, sie ließ es nicht mehr aus den Augen. Langsam kam sie näher und kniete sich schließlich vor dem Tisch, auf dem das Christusbild stand, hin. Sie faltete ihre Hände und betete mit monotoner Stimme ein Ave Maria nach dem anderen. In Ekstase schwang ihr Körper vor und zurück.
Plötzlich stöhnte Maria laut auf. Ihre Bewegungen waren unvermittelt eingefroren. Nur ihre Hand erhob sich krampfhaft und zeigte mit zittrigem Finger auf das Kruzifix. Die Witwe stammelte etwas Unverständliches.
Die Anwesenden, die zuerst Marias Verwandlung gebannt verfolgt hatten, starrten nun auf die weiße Statue. Einige traten näher heran, um besser sehen zu können, was sich gerade ereignete. Ein glitzernder Tropfen Flüssigkeit hing am Auge des Bildnisses, wurde langsam größer und tropfte schließlich herab. Dann erschien ein zweiter. Auch am anderen Auge bildeten sich nun die Tropfen.
Johann von Rottorf rief laut aus: »Christus weint!«
Einer der Ratsherren ergänzte: »Genau wie in St. Nikolai, wenn sie ihre Visionen hat.«
Marias Erstarrung hatte so unvermittelt aufgehört, wie sie begonnen hatte. Die junge Frau plapperte wie wild und verdrehte die Augen. Ihre krampfartigen Bewegungen wurden immer heftiger.
Dann sprang sie laut schreiend auf: »Sie kommen!«
Agnes ging auf sie zu, sprach beruhigend auf sie ein. Als sie Maria die Hand auf die Schulter legte, kreischte Maria wie von Sinnen los. Die junge Witwe schlug wild um sich und versuchte Agnes zu kratzen.
»Vorsicht!«, rief Johannes vom Domhof und konnte seine zukünftige Schwiegertochter gerade noch zurückreißen, bevor sie ernsthaft verletzt wurde. Zum Glück zeigte sich nur auf Agnes’ rechtem Handrücken eine blutige Schramme.
Mit irren Augen funkelte Maria die Anwesenden an. Ihr Gesicht war zu einer wilden Fratze verzerrt. »Keiner bekommt mich! Ihr könnt mich nicht töten! Christus beschützt mich! Ihr werdet alle sterben!« Laut schreiend stürzte sie zum Eingang und lief hinaus.
Im Rathaussaal herrschte absolute Stille. Alle Blicke hingen an der offen stehenden Tür. Diese Reaktion hatte keiner erwartet – außer Agnes und Ludolf.
Nach einem schier endlosen Augenblick eilte ein Ratsherr los. »Ich schicke ihr Wachen hinterher, damit niemand verletzt wird.«
Fassungslos blickten sich die Anwesenden an. Sie suchten nach Erklärungen, nach Erleuchtung.
Schließlich wandte sich der Domdekan an Ludolf: »Dies war doch ein echtes Wunder. Oder? Woher sollen die Tränen gekommen sein? Aus der Luft?«
Der junge Mann ging zum Tisch und nahm das Kruzifix. »Ich war mir von Anfang an sicher, dass diese Tränen ein Schwindel waren. Ich habe die Statue untersucht, aber nichts gefunden. Ich war so sauer, dass ich das Ding nahm und ärgerlich auf den Tisch warf. Es schlug gegen einen Krug und plötzlich fehlte der obere Teil des Kopfes. Genau dort, wo der Dornenkranz mit dunkler Farbe aufgemalt ist, kann man das Stück abnehmen. Geschickt gemacht. So kann man die Nahtstelle kaum sehen.«
Ludolf drückte seinen Fingernagel in einen haarfeinen Spalt, und schon hatte er die obere Schädeldecke entfernt. Die neugierigen Zuschauer konnten nun sehen, dass der Rest der Statue hohl war.
»Dieses Loch im Innern ist der Schlüssel. Die Statue ist aus Gips und komplett glasiert. Nur an den Lidern ist die Glasur abgekratzt. Füllt man nun Wasser ein – mein Vater tat es, als er meine Tasche mit den Utensilien holte –, wird die ganze Figur durchnässt, denn Gips ist wasserdurchlässig. Und nach gewisser Zeit quillt das eingefüllte Wasser an den Augen wieder heraus. Und alle glauben, Christus weine.«
Der Bürgermeister nahm das Kruzifix Ludolf aus den Händen und untersuchte die Statue eingehend. Auch von Rottorf und die Gräfin überzeugten sich von ihrem geheimnisvollen Innenleben. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Sie konnten kaum glauben, dass sie auch hierbei hinters Licht geführt worden waren. All die Wunder, die Bassenberg nach Rinteln gebracht hatte, waren nur Lügen und Betrug.
Wutentbrannt stürmte Jaspar Prutze auf den Priester zu. »Du ... du ...«
Der Domdekan stellte sich ihm in den Weg. »Lasst ihn! Er wird schon seine Strafe bekommen. Bitte macht euch an ihm nicht eure Finger schmutzig. Er wird für seine ketzerischen Spielereien büßen.«
Der Bürgermeister hob drohend die Faust. »Ja!
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