Die heimliche Braut
Blicke begegneten sich, und für einen Wimpernschlag war ihr, als schaue die Lady ebenso durchdringend wie ihr Bruder, als könne sie wie er ihre geheimsten Gedanken erahnen.
Riona verwünschte sich stumm dafür, dass sie müßig im Burghof verweilte, obgleich es so viel zu tun gab. “Komm, Polly!”, befahl sie energisch. “Wir haben bereits genug Zeit vergeudet.”
12. KAPITEL
A m Ehrentisch stehend, flankiert von Schwester und Schwager, wartete Nicholas auf das Tischgebet des Burgkaplans vor dem Abendbrot. Sämtliche hochherrschaftlichen Gäste hatten sich eingefunden, ausgenommen Roban, Fergus Mac Gordon und Lady Riona, die sich vermutlich in der Küche befand, um dort nach dem Rechten zu sehen. Wo Fergus und Roban steckten, vermochte niemand zu sagen. Allerdings fiel Nicholas auf, dass Lady Eleanors Zofe Fredella anwesend war.
Mit Interesse hatte er beobachtet, wie die Herren reagierten, als sie Marianne und Adair vorgestellt wurden. Percival beispielsweise hatte sich vor der Schwester des Burgherrn genau wie der eitle Gockel aufgeführt, der er war. D’Anglevoix gebärdete sich etwas weniger spröde als sonst, und Lord Chesleigh war die Höflichkeit selber gewesen.
Adair gegenüber benahmen sie sich schon merklich reservierter. Die Beine leicht gegrätscht, die Arme über der Brust verschränkt, stand er lächelnd da und machte den Eindruck, als wolle er sie wortlos mahnen: Wehe, ihr wagt es und zweifelt an, dass ich einer der Besten und Tapfersten bin! Sollten die drei von dem verwegen wirkenden Schotten nicht entsprechend beeindruckt gewesen sein, so ließen sie sich ihre Skepsis wohlweislich nicht anmerken.
Die Reaktion der übrigen jungen Herrschaften war wie erwartet ausgefallen. Lavinia hatte nach ein paar schüchternen Floskeln sogleich das Weite gesucht, Priscilla wie üblich gekichert und Audric sich tief verneigt sowie einige anerkennende Worte über den schottischen Kampfesmut geäußert – für Nicholas ein Beweis seiner Klugheit und Ritterlichkeit. Joscelind zeigte sich tief beeindruckt, allerdings weniger von Marianne als vielmehr von Adair, wobei sie bemüht war, auf ihrem schönen Antlitz nicht allzu viel Gemütsregung erkennen zu lassen.
Die blasse Eleanor hatte nur wenig gesagt.
Blitzschnell wechselte Nicholas’ Blick zwischen Eleanor und Joscelind hin und her. Wahrscheinlich, so seine Vermutung, würde sich jede der beiden für eine glückliche Ehe eignen. Im Grunde war nichts gegen einen Versuch einzuwenden, ob nun mit der einen oder der anderen. Für Joscelind sprachen – bei allen Unzulänglichkeiten im Auftreten – ihre Schönheit sowie der Reichtum und die Beziehungen ihrer Familie. Für Eleanor galt im Wesentlichen dasselbe, wenngleich sie allerdings erheblich jünger war.
Nun endlich gab der Burgkaplan seinen Segen. Mit geschlossenen Augen stimmte Nicholas eilig ins Tischgebet ein, und alle dankten gemeinsam dem Allmächtigen für die gnädigen Gaben, die er der Tischgesellschaft bescherte. Kaum hatte Pater Damon geendet, erfüllte auch schon angeregtes Stimmengewirr den Saal, ausgelöst durch die Gespräche der versammelten hohen Herrschaften, Soldaten und Diener. Es dauerte gar nicht lange, da kamen noch weitere Dienstboten aus der Küche, um Krüge voll Wein und Körbe voll Brot aufzutragen.
“Wo sind denn die Kinder?”, fragte Nicholas seine Schwester, in Gedanken bei seinem draufgängerischen kleinen Neffen, der dazu neigte, nicht erst lange zu wägen, sondern sogleich zu wagen. In dieser Beziehung war der Knirps Henry oder Marianne überhaupt nicht ähnlich.
Und was Cellach anging: Mit Säuglingen kannte Nicholas sich zwar nicht aus, aber das kleine Mädchen hatte sich bei der Ankunft so in seine Arme gekuschelt, als fühle es sich dort überaus geborgen. Er betrachtete dies als ein geradezu überwältigendes Kompliment, welches in ihm ein mächtiges Sehnen nach einem eigenen Kind entfachte.
“Polly hütet die beiden”, erwiderte Marianne. “Cellach schlummert tief und fest, und ich hoffe, Seamus wird ebenfalls bald eingeschlafen sein, auch wenn er während der Reise sein Nickerchen machte. Ich musste ihm allerdings versprechen, dass du ihm mit dem Schwert eines deiner zahlreichen Zauberstückchen zeigst, wie er sie nennt. Sonst wäre er nicht in Pollys Obhut geblieben.”
“Wo steckt denn bloß Roban, zum Teufel?”, brummte Adair, wobei er den Blick durch den Saal schweifen ließ.
“Vielleicht hat er beschlossen, in der Schenke zu speisen”,
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