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Die heimliche Lust

Die heimliche Lust

Titel: Die heimliche Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dalma Heyn
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bekommen, in dem diese über Jessica schreibt, »sie ist das intelligenteste Mädchen in der Klasse, aber sie hat keinen großen Antrieb, zu lernen«, und denken: das stimmt. Hat sie nicht. Sie möchte spielen. Sie ist neun und sehr aufgeweckt, aber ihr Interesse konzentriert sich noch nicht auf die Schularbeit. Ich kann mir das sagen und dahinterstehen: Wer sagt denn, daß eine Neunjährige nicht mehr spielen darf? Und was ist schon dabei, wenn sie länger braucht als andere Mädchen? Und — das ist etwas ganz Neues für mich — was ist dabei, wenn sie tatsächlich ein bißchen zurückbleibt? Verstehen Sie, was ich meine? Es ist eine andere Lebensweise. Mich überfällt nicht mehr so schnell die Angst. Und meine Kinder vertrauen mir. Ich gerate nicht aus der Fassung, weil meine Kinder irgendwelchen Normen nicht entsprechen. Die Spielregeln haben sich grundlegend geändert. »Verhalten Sie sich auch der Umwelt gegenüber anders ?«
    Ich habe die Lehrerin angerufen und ihr für ihre Aufmerksamkeit gedankt, habe ihr gesagt, daß mir auffällt, wie intensiv Jessica mit anderen Kindern spielt, und daß wir darüber sprechen sollten, wenn es in einem Jahr noch ein Problem ist — kein gerade erst beginnendes »Problem«, weil sie bestimmten Altersnormen nicht entspricht. Ich kann das tun, ohne mich defensiv oder feindselig oder selbstgerecht zu fühlen. Nach dem Motto, ich sehe da eigentlich kein Problem, aber ich bin gern bereit, darüber zu reden, falls es anhalten sollte und es mir dann als Problem erscheint.
    »Sie hätten vor Ihrer Affäre nicht so mit der Lehrerin gesprochen ?«
    Ich hätte gar nicht angerufen; ich hätte kein Bedürfnis nach einem solchen Anruf empfunden — die Lehrerin hatte immer recht. Wenn ich sie angerufen hätte, dann hätte ich es gewiß nicht gewagt, der Lehrerin eine eigene Meinung entgegenzuhalten, ich hätte noch nicht einmal daran gedacht, mir eine zu bilden. Verstehen Sie, was ich meine? Das sind verschiedene Ebenen. Ich hätte alles mögliche befürchtet: Ich würde umgebracht werden oder mein Kind hinausgeworfen oder meine Familie von der Schulleitung angegriffen oder sonst etwas Schreckliches. Ach nein, ich hätte noch nicht einmal den Impuls gehabt, das zu tun. Ich hätte automatisch, reflexartig, der Lehrerin geglaubt, und geglaubt, daß mein Kind eine Versagerin ist, daß sie in Schwierigkeiten ist, daß ihr Leben ruiniert ist, daß ich ruiniert bin. Verstehen Sie, mit allem Drum und Dran. Akzeptiert zu sein, das war mir ungeheuer wichtig.
    »Ein Therapeut würde vielleicht sagen, Jessicas mangelnde Konzentration auf ihre Schularbeit hänge damit zusammen, daß sie, und sei es unbewußt, Kenntnis von Ihrem Verhältnis hat. Macht Ihnen das Sorgen? Daß sie weiß, daß es ein Geheimnis gibt, und daß sie deswegen beunruhigt sein könnte ?«
    Natürlich. Aber das ist die Denkweise, von der ich mich entfernt habe; diese Selbstbezichtigungen für was auch immer, die Vorstellung, daß ich mich nicht »rühren« darf, oder mein Kind wird sterben. Jessica hat sich sehr wenig verändert; man hat ihr immer »mangelndes Interesse an ihrer Schularbeit« vorgeworfen, deshalb kann ich es kaum auf mein Verhältnis zurückführen. Und ich finde sie blühend, nicht leidend. Ich merke, daß sie sich viel offener äußert, sowohl mir als auch ihren Freundinnen gegenüber. Sie ist von diesem ganzen Mist befreit, genau wie ich — und weil ich es bin. Ein Psychiater würde vielleicht sagen, daß ich zur Verleugnung neige oder daß ich eigentlich zutiefst unglücklich sei, ohne es zu wissen. Aber ich habe erlebt, daß mich ein Psychiater für glücklich erklärt hat, als ich nahe am Selbstmord war — einfach weil ich hatte, was mich hätte glücklich machen sollen, und daß daher etwas mit mir nicht stimmen konnte, weil ich mich nicht glücklich fühlte. Früher war ich depressiv, ich bin es aber nicht mehr. Was ich merke ist, daß meine Trennung von Jessies Vater weit davon entfernt ist, ihr nachhaltig zu schaden. Obgleich es sein kann, daß sie etwas vermutete, und obgleich meine Trennung von ihrem Vater sicher nicht das Beste für sie war oder das, was sie sich wünscht: Insgesamt gesehen glaube ich, daß ich jetzt eine viel bessere Mutter bin. Ich glaube nicht, daß die Veränderung von Jessicas Situation eine ebenso große nachteilige Wirkung auf sie hat wie meine Veränderung eine positive Auswirkung. Die Kinder ziehen einen weitaus größeren Nutzen aus dieser Situation. Denn trotz des

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