Die heimliche Päpstin
sie nicht Sünde? Weist unsere christliche Kirche nicht alle Gedanken der alten Philosophen in den Bereich des Aberglaubens, brandmarkt sie diese nicht gar als Ketzerei? Müssen wir nicht an die unsterbliche Seele glauben, an Höllenqualen für die einen, Himmelsseligkeit für die anderen, an das Jüngste Gericht, in dem der eine und einzige Gott endgültig entscheidet, wer erlöst werden kann und wer als Verdammter ins ewige Feuer hinabgetrieben wird?
Theodora hatte mit ihrem Weg in den Tod, freiwillig und ohne den Empfang der Sterbesakramente, den direkten Weg in die Hölle gewählt. Sie verzichtete auf Buße und Freispruch von allen Sünden, selbst in Erwartung ihres letzten Weges, sie verzichtete auf jeglichen Abschied, auf Begleitung und Hilfe – und dies erschüttert mich noch heute, zehn Jahre nach ihrem Verschwinden. Vertraute sie der Gnade des Barmherzigen, der sie übersehen, bestrafen oder auch erretten konnte?
Und noch ein Gedanke streifte mich damals, verschwand später, hat jedoch verborgen überlebt und treibt nun, während wir selbst in einem Totenlabyrinth hocken, seltsame Blüten: Verschwand Theodora vielleicht nur in der Unterwelt, um jenseits der Mauern wieder ans Tageslicht zu gelangen, um auf diese Weise Rom unerkannt zu verlassen? Ist dieser Gedanke so abwegig? In manchen Klöstern südlich der Aurelianischen Mauer, in der Nähe der Via Appia, soll es Zugänge zu den Katakomben geben … Theodora hätte so viel Gold mitnehmen können, daß ihr kein Weg und auch kein Zufluchtsort hätte verschlossen bleiben müssen. Jedem Verräter hätte sie leicht mit einer Münze den Mund versiegelt.
Vielleicht war sie sogar zu dem vom Wasser umschlossenen Nonnenkloster auf der Isola Bisentina geflohen – ich hatte nach meiner ersten Inspektionsreise nicht nur Marozia, sondern auch ihr von diesem Ort paradiesischen Friedens erzählt –, um dort ihre letzte Heimstatt in Sicherheit und Stille zu finden.
O Herr, meine Hand beginnt zu zittern, während ich dies schreibe. Plötzlich wünsche ich, hoffe ich, glaube ich, daß Theodora noch lebt, daß ich sie suchen darf und wiedersehe – so wie mich mein Sohn gesucht hat und wiedersehen möchte.
Barmherziger Gott, laß mich nicht in dieser Gruft verkommen, laß mich frei, damit ich mir den letzten Wunsch meines Lebens erfüllen kann!
Zum Glück hat Marozia meine Erregung nicht wahrgenommen, und um keine Fragen heraufzubeschwören, kehre ich wieder in die Via Lata zurück, zu dem Morgen, an dem Theodora verschwunden war.
Jetzt barg Marozia ihr Antlitz an meiner Brust, suchte wortlos Hilfe und Trost. Obwohl sie ihre Mutter haßte, hing sie gleichzeitig an ihr. Beide waren sich ähnlich, vielleicht zu ähnlich. Marozia mußte spüren, daß sich mit Theodoras Weggang eine Verantwortung auf sie zuwälzte, der sie nicht ausweichen konnte, sie mochte spüren, daß die Macht in Rom, die ihre Eltern mit Alberichs und Sergius' Hilfe errungen hatten, ihr nicht kampflos erhalten blieb, sondern täglich neu erobert werden mußte. Und natürlich wußte sie, daß Frauen nicht zum Herrschen geboren sind, nirgendwo auf der Welt: Könige, Herzöge, Feldherrn und Päpste sind Männer, auch in der Familie herrscht der Mann. Selbst wenn Johanna Anglica sich heimlich bis zum Papstthron hatte emporkämpfen können, so fand sie doch ein Ende durch Liebe und Mutterschaft.
Solange Theodora unter uns weilte, solange Alberich sein schützendes Schwert über die Familie hielt, die Sarazenen nicht wieder einfielen und der Reichtum der Familie sich vermehrte, konnte Marozia mit ihrem anmutigen Lächeln, mit ihrer Schönheit und Grazie sowie mit ihrem starken Willen glauben, sie sei die verehrte Senatrix et Patricia Romanorum, sie sei die einflußreichste Frau der Stadt. Doch nach dem Verschwinden der Mutter hatte sie allen zu beweisen, daß sie stärker war als jeder Mann: Eine Aufgabe, an der sie zerbrechen mußte?
Langsam löste sie sich von mir und flüsterte mir zu: »Schließ die Geheimtür. Niemand darf sehen, wie sie sich öffnen läßt. Papst Johannes wird einen Sarg ohne Leichnam segnen, und wir alle werden vergessen, was geschehen ist.«
Schlaflos quälte ich mich durch die folgende Nacht und begab mich am nächsten Morgen ein zweites Mal in das Labyrinth, diesmal ohne Begleitung, mit einem noch längeren Wollfaden. Ich kennzeichnete die ersten Abzweigungen durch Pfeile, bis ich zu den Katakomben gelangte, rief dort nach Theodora, bis ich heiser wurde, tastete einige
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