Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
kommen ja sonst ganz schwer unter auf dem freien Wohnungsmarkt.«
Dille rollte mit den Augen. In seiner Phantasie sah er bereits einen verfilzten und verlausten Penner mitsamt dreibeinigem Hund, fortgeschrittener Tuberkulose und schwerer Alkoholabhängigkeit bei seinen Kindern einziehen. Doch er verkniff sich jeden Kommentar. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, diesbezüglich ein Veto einzulegen. Seine Zwillinge würden niemals jemanden abweisen. Sie waren offen für jeden und alles, waren voll blindem Vertrauen und einem sozialen Missionarseifer, der ebenso lobenswert war, wie er verhängnisvoll sein konnte.
Die Zwillinge spielten in verschiedenen Bands (Punk und Ska) und tummelten sich in Amnesty-International-Gruppen, konspirativen Zellen von radikalen Tierschützern und Kampfvegetariern. Sie verbrachten jede freie Minute in Cliquen, Horden, Meuten. Sie sprachen wildfremde Menschen an, ließen sich von den bizarrsten Typen vollquatschen und gaben großzügig jedem Penner Geld, der in der Fußgängerzone auf dem Boden saß. Lucy und Florian hatten einen unerschöpflichen Vorrat an kuriosen Bekanntschaften. Wagte Dille es hin und wieder, ihre vertrauensselige Affinität zu allerlei dubiosem menschlichem Strandgut zu kritisieren, dauerte es selten länger als fünf Minuten, bis er von seinen Kindern als Rassist, asozial und/oder herzlos bezeichnet wurde. Wenn Lucy und Florian einem Berber ein Zimmer anbieten wollten, würde Dille sie nicht davon abhalten können. Und selbst wenn es ihm wunderbarerweise gelänge und die Zwillinge keinen offiziellen Mitbewohner aufnähmen, so würden in ihrer Wohnung vermutlich trotzdem ständig eine Handvoll obskurer Typen übernachten. Da war es Dille tatsächlich lieber, wenn sich wenigstens einer davon formell an der Miete beteiligte. Dille verdiente als Filialleiter bei der Discounterkette Hagro zwar nicht schlecht, aber weiß Gott nicht so gut, dass er problemlos die Wohnungen für seine drei Kinder finanzieren konnte. Zwar jobbten Lucy und Florian, bevor sie demnächst irgendwann vielleicht mal ihr Studium beginnen würden (»Byzantinistik und neugriechische Philologie vielleicht oder Verhaltensgestörtenpädagogik«), doch sie behielten ihre Anstellungen als Tresenkraft, Regalauffüller und Pizzafahrer selten länger als ein paar Wochen. Mal war der Chef ein Sexist, Rassist und/oder herzlos, mal war die Bezahlung »menschenunwürdig«, und manchmal scheiterte das Angestelltenverhältnis auch an dem hochkomplexen Konzept des Rechtzeitig-aufstehen-und-pünktlich-am-Arbeitsplatz-Erscheinens, auf das erschreckend viele Arbeitgeber zu bestehen schienen.
Nein, Lucys und Florians Basisversorgung fiel immer noch in den Verantwortungsbereich ihrer Eltern. Dille und Petra taten, was sie konnten. Doch auch Petras Einkommen als Grußkarten-Kreative war eher mittelprächtig. Immerhin hatten sie kistenweise Gratiskarten für alle Gelegenheiten im Keller gestapelt. Bei jeder Beerdigung, Taufe, jedem Geburtstag und in einem Fall sogar einer Bar-Mizwa versorgten sie ihre Freunde großzügig mit kostenlosen Pappkärtchen. Aber mit Goldene-Hochzeit-Glückwünschen und Konfirmationsweisheiten konnte man keine Familie durchbringen. Auch der Anwalt, der sich derzeit mit Lucys und Florians Karstadt-Eskapade beschäftigte, würde sich vermutlich nicht mit fünfhundert Pumuckl-Einladungskarten zum Kindergeburtstag abspeisen lassen.
Und dann war da auch noch das neue Kind. Dille freute sich auf den Familienzuwachs, aber die zusätzliche finanzielle Belastung lag ihm schwer im Magen …
Am Abend standen Dille und Petra in der Küche. Petra wusch einen Eisbergsalat und schnitt ihn klein, Dille mischte ein Fertigdressing aus Tütenkräutern und Olivenöl an.
»Was für eine Bruchbude«, sagte Dille.
Petra legte das Messer beiseite. »Ich finde, die Wohnung passt zu den beiden.«
»Weißt du noch?«, sagte Dille. »Unsere erste Wohnung?«
Petra seufzte: »Oh ja. Wir hatten alle Möbel von unseren Eltern bekommen. Wir haben in den Scheißmöbeln gewohnt, die unseren eigenen Eltern schon zum Hals raushingen.«
»War trotzdem ’ne schöne Zeit«, sagte Dille. »Chaotisch, aber schön.«
»Ja«, gab Petra zu. »Manchmal war’s schön.«
»Ich liebe dich. Das weißt du, oder?«, fragte Dille.
Petra wusch sich die Hände in der Spüle und trocknete sie ab. »Ja«, sagte sie. »Schätze, das tust du.«
Die beiden sahen sich eine Weile an. Dann goss Petra zwei Gläser Weißwein ein.
»Na, na,
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