Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
herunterzerren. Sie konnte bloß rufen und hoffen, dass er irgendwann auf sie hörte. Sie war ihm ausgeliefert. So etwas fanden Erwachsene gar nicht gut, wenn sie die Dinge nicht kontrollieren konnten.
Nele fragte sich, ob Jegor einfach mitten im Unterricht herausgelaufen war. Wer machte denn so was? Nele fand Jegor interessant. Sehr viel interessanter als den Matheaufgaben-Peter und seine blöden Gummibärchen.
* * *
Die amerikanische Botschaft an der Hamburger Außenalster war in einer prächtigen, hell gestrichenen Villa mittlerer Größe untergebracht, die wie eine bescheidene, hanseatische Variante des Weißen Hauses in Washington aussah. Bis vor kurzem hatte einfach nur ein ganz normaler Zaun das Gebäude umgrenzt, und ein gelassen wirkender amerikanischer Soldat hatte davor Dienst geschoben. Alles sehr unaufgeregt. Bis vor kurzem hatte man dort auch einfach so hineingehen können. Man hatte bloß seinen Ausweis vorgezeigt, war durch die dezente Absperrung gegangen und hatte im Wartebereich Platz genommen, bevor man zu einem Botschaftsangestellten hineingerufen wurde, der einem einen Visumstempel in den Pass drückte oder sonstige Sachen für einen regelte.
Bis vor kurzem war es auch kein Problem gewesen, in die USA zu fliegen. Die bürokratischen Hindernisse auf dem Weg zur Einreise waren im Laufe der Jahre immer mehr geschrumpft. Doch seit 9/11 und diesen dubiosen Anthrax-Briefsendungen, die kurz darauf in den USA diverse Staatsangestellte vergiftet hatten, war schlagartig alles anders geworden. Um die Botschaft war fast über Nacht ein regelrechtes Sperrgebiet entstanden, ein Parcours aus Stahlzäunen war gebaut worden. Die Straße vor der Botschaft, die für Abertausende von Hamburgern bis dahin ein fester Teil ihres täglichen Arbeitsweges gewesen war, war nicht mehr passierbar. Es war, als hätte man den Gazastreifen in die Hamburger Innenstadt verlegt. Aus einem gelangweilten Soldaten, der hier Dienst schob, war ein Dutzend mit Maschinengewehren bewaffneter Männer geworden. Wobei »Männer« nicht der richtige Ausdruck war, es waren noch halbe Kinder.
Sven betrachtete die Knaben in Uniform. Neunzehn, zwanzig Jahre alt schienen sie zu sein. Stoppelhaare, schwer bewaffnet und mit einem Blick, der Entschlossenheit ausstrahlen sollte, in dem Sven aber auch so etwas wie Ratlosigkeit und Furcht zu erkennen glaubte. Das könnte eine interessante Figur in einem seiner nächsten Stücke abgeben: der scheue Schlächter, der ratlose Lakai. Doch momentan suchte Sven nicht nach künstlerischer Inspiration, es ging ihm nur um eines: Er wollte an den Soldaten vorbei ins Innere der Botschaft. Er wollte an diesem Mittwochmorgen mit jemandem reden, der etwas zu entscheiden hatte. Er wollte seinen New Yorker Musiker auslösen, dessen Flugverbot aufheben, für ihn bürgen, erklären, dass er ihn brauchte. Für seine Inszenierung. Für die Kunst. Für seine Karriere.
Sven ging zu dem ersten Soldaten, der an dem einzigen Eingang patrouillierte, den der Zaun bot. Hinter dem grimmig dreinblickenden Torwächter stand ein kleines Wachhäuschen. Darin waren ein Stuhl, ein kleiner Tisch, darauf ein Funkgerät, ein Telefon, und an der Wand hing ein Bild von George W. Bush.
»Hi«, sagte Sven zu dem Soldaten und hob die Hand in einer Ich-komme-in-Frieden-Geste. Es war ein komisches Gefühl, einen Mann anzusprechen, dessen Hand auf einem Maschinengewehr ruhte. »Excuse me …«
Der Soldat kniff die Augen zusammen. Er betrachtete Sven argwöhnisch und eindeutig feindselig. Wahrscheinlich war das so bei Soldaten. Das Erste, was sie lernten, war: Traue niemanden.
»Can I go inside?«, fragte Sven.
»No, you can’t«, sagte der Soldat. Seine Stimme war viel dünner und zarter, als es seine martialische Erscheinung vermuten ließ.
»But …«, hob Sven zu einer Erklärung an.
Doch der amerikanische Soldat war nicht interessiert an Erklärungen, Hintergründen und Diskussionen. Er folgte bloß Befehlen. Und sein derzeitiger lautete ganz ohne Zweifel, niemanden einzulassen.
»You can contact the embassy via e-mail«, sagte der Soldat sein Sprüchlein auf.
Sven aber war nicht bereit, den mühsam und keinerlei Erfolg versprechenden Weg einer schriftlichen Kontaktaufnahme zu gehen. Schickte er eine E-Mail, würde er zweifelsohne mit einem Formbrief abgebügelt werden.
»Listen …«, sagte Sven und trat einen Schritt vor. Er stand nun direkt an der Öffnung des Zauns. Einen Schritt noch und er stände auf dem Hoheitsgebiet der
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