Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
vergewaltigt worden. Sie sagt, sie sei bei einer Feier betrunken eingeschlafen und aufgewacht, als ein Mann auf ihr lag. Gut möglich, dass das stimmt.«
»Oh, mein Gott«, stöhnte Jörn.
»Peggy ist nicht der krasseste Fall, glaubt mir«, sagte Rolf. Er duzte die beiden ganz selbstverständlich, und Jörn und Sven war es recht. »Sie wurde nicht geschlagen oder missbraucht, soweit wir das beurteilen können. Sie ist nicht wirklich unterernährt, hat aber Mangelerscheinungen. Sie braucht Vitamine – auch Vitamin D, also Sonne – und Ballaststoffe. Und sie war nie in einer Krabbelgruppe oder im Kindergarten. Sie hat Angst vor anderen Menschen, vor anderen Kindern. Und es ist nicht leicht herauszufinden, wie intelligent sie ist. Sie spricht kaum, und ihr fehlt Basiswissen. Es hat ihr nie jemand vorgelesen, mit ihr Zahlen- oder Buchstabenspiele gemacht.«
»Was ist passiert, dass ihr sie jetzt doch der Mutter weggenommen habt?«, fragte Sven.
»Ihre Mutter ist im Krankenhaus. Sie hat Abflussreiniger getrunken. Sie sagt, es sei ein Versehen gewesen, doch wahrscheinlich war es ein Selbstmordversuch. Oder die Stimmen in ihrem Kopf haben ihr befohlen, es zu tun. Ihre Organe sind angegriffen, es wird Monate dauern, bis sie wieder einigermaßen hergestellt ist. Außerdem muss sie medikamentös neu eingestellt werden. Mit Psychopharmaka ist heute vieles möglich.«
Jörn staunte, wie nüchtern Rolf die Fakten aufzählte. Wahrscheinlich brauchte man diese Distanz in seinem Job. Ganz sicher brauchte man die. Doch ebenso sicher war Distanz das letzte, was dieses Kind brauchte.
»Ist Schizophrenie … vererbbar?«, fragte Jörn.
»Ja«, nickte Rolf. »Schizophrenie kann vererbt werden, muss aber nicht. Und es macht sich frühestens in der Pubertät bemerkbar.«
»Das arme Kind«, seufzte Sven.
»Peggy hat den Tag heute genossen. Eure Aufmerksamkeit. Das war unübersehbar. Doch sie schien sich die ganze Zeit zu fragen, warum ihr nett zu ihr seid. Sie ist es einfach nicht gewohnt, versteht ihr? Ihr dürft keine normalen Reaktionen von ihr erwarten. Eine ganze Weile nicht. Ihr dürft nicht glauben, dass sie nach ein paar Wochen in eurer Obhut, in eurer heilen Welt, einfach auftaut und fröhlich wird und wie andere Kinder ist. So leicht wird es nicht. Sie ist ein beschädigtes Wesen.«
Sven und Jörn nickten.
»Ich bringe Peggy nächste Woche zu euch«, fuhr Rolf fort. »Ich habe ein gutes Gefühl bei euch. Aber bitte, merkt euch: Es braucht Zeit, sie braucht Zeit.«
Rolf erhob sich. Eine klare Geste. Jörn und Sven standen ebenfalls auf.
»Darf ich dich was fragen?«, sagte Sven.
»Sicher«, nickte Rolf.
»Ist es eigentlich Absicht, dass wir ein Mädchen bekommen?«, fragte Sven, und Jörn sah ein wenig von dem Kampfgeist aufblitzen, den er an seinem Mann gleichermaßen bewunderte wie fürchtete. »Kriegen wir ein Mädchen, weil man nie weiß, was zwei Schwule mit einem Jungen anstellen würden?«
»Komm schon, Sven«, versuchte Jörn einzulenken, »das ist doch jetzt völlig …«
»Ja, so ist es«, bestätigte Rolf. Er war gelassen und reagierte auf den Vorwurf mit nüchterner Aufrichtigkeit. »Du hast recht. Es gibt in der Behörde eine Menge Leute, die Homosexuelle als Pflegeeltern am liebsten gar nicht akzeptieren würden. Das ist Schwachsinn, natürlich. Aber so ist es nun mal. Ich habe immer Angst, wenn ich ein Kind zu Pflegeeltern gebe. Und dabei ist es völlig egal, ob sie schwul sind oder nicht. Wir vermitteln schließlich keine Haustiere, wir legen Leuten, die wir kaum kennen, das Schicksal hilfloser kleiner Menschen in die Hände. Es ist eine große Verantwortung.«
Jörn und Sven schauten Rolf an. Sie waren beeindruckt von seiner Offenheit.
»Das ganze Thema … das wäre ein interessantes Theaterprojekt«, dachte Sven laut.
»Euer Projekt liegt im Zimmer nebenan und schläft«, sagte Rolf. »Das ist ein Mensch, kein Konzept.«
Sven wurde rot. Ertappt.
»Da sind sie«, sagte Jörn und zeigte aus dem Fenster.
Rolf kam den Weg entlang. In der einen Hand trug er eine Reisetasche, an der anderen hielt er Peggy, die neben ihm ging. Den Kopf, wie üblich, gesenkt.
»Hallo, Peggy«, sagten Jörn und Sven, als sie die Wohnungstür öffneten. »Schön, dass du da bist.«
Peggy blickte auf den Boden.
»Komm, ich zeig dir dein Zimmer«, sagte Jörn und hielt seine Hand ausgestreckt. Er hoffte, dass Peggy danach greifen würde, doch sie machte keine Anstalten. »Komm mit«, sagte Jörn lächelnd und
Weitere Kostenlose Bücher