Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
vorübergehend untergebracht worden war. Das Treffen hatte unter Aufsicht eines Sozialarbeiters stattgefunden.
Peggy war ein kleines Kind, dünn und zart selbst für ihr Alter, mit braunen Locken und Händen, die unentwegt nervös in Bewegung waren. Ihre Finger zuckten und tippten, als würden sie eine unsichtbare Computertastatur bedienen. Peggy hatte bei diesem ersten Treffen die meiste Zeit nur zu Boden geschaut, ängstlich und scheu. Jörn und Sven waren ratlos gewesen, hatten nicht gewusst, was sie sagen sollten. Hallo, wir sind deine zukünftigen Teilzeitväter? Wie erklärte man einem Kind das Konzept der temporären Fürsorge? Sven und Jörn wollten Peggy zeigen, dass sie für sie da waren – allerdings ohne sie zu bedrängen.
Beim zweiten Treffen hatten sie einen Ausflug mit ihr gemacht. Sie waren in den Wildpark Schwarze Berge gefahren, einen Freilichtzoo, und als Peggy die Tiere dort gesehen hatte, waren ihr fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Als die gemütlichen Hängebauchschweine auf sie zugetrottet gekommen waren, hatte sie vor Schreck geweint. Doch nachdem sie gesehen hatte, dass die anderen Leute die Schweine fütterten und streichelten, war ihre Angst vor den Tieren verloschen. Sie hatte die Schweine angefasst, gestreichelt, immer und immer wieder, unermüdlich, und wollte gar nicht mehr aufhören.
Sie ging neben Jörn und Sven. Einmal nahm sie Jörns Hand und hielt sie eine Weile fest. Jörn bekam eine Gänsehaut. Eine gute Gänsehaut. Es war eine der intensivsten Berührungen, die er je in seinem Leben erfahren hatte. Peggy ließ die Hand irgendwann wieder los und ergriff sie nicht noch einmal.
Als sie die Rehe sah, starrte sie sie an, als wären es Aliens. Ihr Mund stand konstant offen, der ganze Tag ein einziges Staunen. Als Sven ihr in der Cafeteria einen Obstsalat kaufte, sah Peggy ratlos aus. Zögernd und skeptisch steckte sie sich ein Stück Ananas in den Mund. Ihre Augen weiteten sich. Begeistert. Das war süß! Sie steckte sich ein zweites Stück Ananas in den Mund. Es schien, als hätte sie in ihrem bisherigen, vierjährigen Leben noch nie ein Stück Obst gegessen. Es war, als käme sie aus einem fernen Land zu ihnen. Ein Mädchen von einem anderen Planeten.
Peggy sagte den ganzen Tag kein Wort. Sven und Jörn sprachen zu ihr, fragten sie vergeblich nach ihren Wünschen, machten kleine Scherze, auf die sie nicht reagierte, erklärten ihr die Tiere, gaben ihr auf dem Spielplatz Schwung an der Schaukel und halfen ihr auf der Toilette. Die meiste Zeit betrachtete sie voller Staunen ihre Umwelt, manchmal lächelte sie, am Ende wurde sie müde, und im Auto, auf dem Weg zurück in die Wohngruppe, schlief sie schließlich ein. In ihrem Kindersitz sah sie aus wie eine kleine Porzellanpuppe.
Der Sozialarbeiter trug die schlafende Peggy ins Haus. Er hatte die beiden zukünftigen Pflegeeltern und das stille Kind die ganze Zeit begleitet, sich aber die meiste Zeit dezent im Hintergrund gehalten, lediglich beobachtet, wie Jörn und Sven sich machten, ihre Tauglichkeit für diese große Aufgabe evaluiert. Nachdem Peggy ins Bett gebracht worden war, setzten sie sich zu dritt in die Küche. Der Sozialarbeiter – er hieß Rolf – hatte Kaffee gekocht. Viel zu schwachen Instantkaffee aus dem Glas. Es gab nur H-Milch, also trank Jörn seinen Kaffee schwarz. Zu Hause hatten Sven und Jörn eine sündhaft teure Kaffeemaschine und bestellten übers Internet mit Vanille aromatisierten Mokka aus Äthiopien.
»Das war ein guter Tag heute«, sagte Rolf. »Vielleicht schon ein bisschen zu viel des Guten. Peggy schien mir etwas überfordert. Sie hatte in ihrem Leben bisher wenig Stimuli.«
Sven und Jörn schauten ihn fragend an.
»Sie war selten draußen. Ihre Mutter ist alleinerziehend. Eine problematische Frau. Sie hat eine klinische Depression, eventuell auch eine leichte Schizophrenie. Da scheiden sich die Gutachter. Bis vor kurzem hat sie es noch halbwegs geschafft, den Alltag zu bewältigen. Sie hat mit Ach und Krach funktioniert. Das Allernötigste hat sie hinbekommen, so dass wir keine Handhabe hatten, ihr Peggy wegzunehmen. Das ist immer nur der wirklich letzte Schritt. Doch Peggys Welt bestand bislang im Wesentlichen aus einer verwahrlosten Wohnung, einem nonstop flimmernden Fernseher und Fertiggerichten aus der Mikrowelle. Und einem gelegentlichen Gang zum Supermarkt.«
»Und der Vater?«, fragte Sven.
Rolf zuckte mit den Schultern. »Unbekannt«, sagte er. »Die Mutter behauptet, sie sei
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