Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
Entschuldigung«, hatte Berg halbherzig gemurmelt. »Blöder Vergleich. Trotzdem, Jegor ist bei uns falsch. Der braucht keinen Lehrer, der braucht einen Therapeuten. Und ich bin nicht bereit, den Frieden in meiner Klasse zu opfern, nur damit so ein … problematischer Schüler …«
»Fein!«, hatte Susann gerufen. »Ich nehme ihn. Er kommt in meine Klasse. Ich kümmere mich um ihn.«
Das gesamte Kollegium hatte sie erstaunt angeschaut.
»Wer solche Eltern hat wie Jegor, der soll nicht auch noch mit einem Lehrer wie dir klarkommen müssen«, hatte Susann Berg angegiftet.
Der stellvertretende Rektor hatte bei dieser drastischen Äußerung pikiert eine Augenbraue hochgezogen. Einige männliche Kollegen, die Berg einen arroganten, faulen Kotzbrocken nannten, hatten sich ein Lachen verkniffen. Die meisten Kolleginnen hingegen, die Berg sexy und charmant fanden, hatten über Susanns Frechheit empört den Kopf geschüttelt.
Und Berg hatte nur gegrinst und gesagt: »Na, dann viel Spaß mit dem Jungen. Je früher du ihn mir abnimmst, umso besser.«
»Nächsten Montag kann er wechseln, kein Problem«, hatte Susann schnippisch entgegnet.
* * *
Als Piet am nächsten Tag von der Lesung zurück nach Hause kam, stürmte Nele auf ihn zu. Sie umarmte ihn und fragte: »Hast du mir was mitgebracht?«
»Ich war nur eine Nacht lang weg«, sagte Piet und ließ sich aufs Sofa fallen. »Das ist nicht lang genug für ein Geschenk.«
»Och, menno«, sagte Nele. »Dann erzähl mir wenigstens eine Geschichte.« Sie setzte sich neben ihren Vater aufs Sofa und kuschelte sich an ihn.
Piet legte ihr den Arm um die Schultern, räusperte sich und begann: »In einem kleinen Dorf, da, wo es Berge gibt und der alte Holzmichl wohnt, erlebte ein Mann aus einer großen Stadt ein gruseliges Abenteuer. Stundenlang war dieser Mann in einer Kutsche voll zappelnder Kobolde eingezwängt, bis er endlich das Dorf erreichte. Die Herrin des Dorfes hatte ihm in der Dorfschenke eine Kammer zur Verfügung gestellt, in der drei magische Geweihe hingen. Eines hatte einem Reh gehört, eines einem Elch und eines einer Ente.«
»Aber Enten haben doch kein Geweih!«, kicherte Nele.
»Oh doch«, sagte Piet. »Denn es war eine Bad Harksdorfer Kampfente, die nicht nur ein Geweih trug, sondern auch messerscharfe Zähne im Schnabel versteckte. Und diese Ente hatte einst einen Fluch über das Dorf gelegt: Jeder Dichter, der es wagte, hier etwas anderes vorzutragen als Geschichten über Leid und Tod, der werde sein blaues Wunder erleben!«
»Was ist ein blaues Wunder, Papa?«, fragte Nele. »Kann man da wirklich blau von werden?«
Piet musste lachen, und bemerkte erst jetzt Susann, die amüsiert im Türrahmen stand und die beiden beobachtete. Sie liebte Momente wie diesen. Und sie liebte Piet, wenn er so war wie jetzt. Sie liebte seinen Humor, seine Phantasie, sein Bedürfnis, Spaß zu machen. Im Mittelalter wäre er vermutlich ein Bänkelsänger gewesen, der in der Schenke die Gäste mit spannenden Geschichten unterhielt.
Oder ein Hofnarr.
Früher war Piet oft so gewesen. Ein Quell bester Laune und skurriler Bemerkungen. Mittlerweile kam das nicht mehr so häufig vor. Es war selten geworden. Aber wenn sich Piets alte Ausgelassenheit zeigte, freute sich Susann. Dann wurde sie von tiefen Gefühlen für ihn durchflutet. In letzter Zeit war Piet allerdings zunehmend maulfaul, nachdenklich, auf eine unbestimmte und unerklärliche Art reizbar und abweisend.
Als Nele im Bett lag, berichtete Susann Piet aufgeregt von den Ereignissen um ihren Kollegen Berg und Jegor. Piet nickte, sagte: »So ein Arschloch, dieser Berg«, und dann noch: »Finde ich toll, wie du dich um den Kleinen sorgst.« Aber Susann spürte, dass er nicht wirklich zugehört hatte.
»Ist irgendwas?«, fragte sie schließlich. »Was hast du denn?«
Piet zögerte kurz, dann rückte er mit der Sprache heraus: »Ich kann das nicht. Diesen Krimikram. Da bin ich nicht mit dem Herzen dabei. Das bin nicht ich.«
Susann verkniff es sich, Piet darauf hinzuweisen, dass auch Schuhverkäufer und Klempner, Dachdecker und Versicherungsangestellte, Friseurinnen und Fernfahrer selten mit dem Herzen bei ihrer Arbeit waren. Kaum jemand hatte den Luxus, vierundzwanzig Stunden am Tag uneingeschränkt er selbst sein zu dürfen. Doch sie kannte Piet. Er war nicht der pragmatische Typ, dem es egal war, auf welche Weise er sein Geld verdiente. Er hatte hohe Ansprüche an sich selbst und an sein Leben. Und wenn er so etwas
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