Die heldenhaften Jahre der Kirschkernspuckerbande: Roman (German Edition)
den letzten Monaten für werdende Eltern, für Taufen und Kindergeburtstage gestaltet hatte. Das war ihr Job: Texterin und Designerin für Glückwunschkarten. Eine der Geburtskarten der neuen Kollektion war wie ein Ei geformt. Darauf stand: Schaut mal, was meine Mama ausgebrütet hat! Und wenn man die Ei-Karte aufklappte, war da eine freie Fläche, auf der die stolzen Eltern ein Foto ihres gerade geborenen Kindes aufkleben konnten.
Und jetzt brütete Petra selbst wieder so ein Kinderküken aus. Ihr viertes!
Petra legte den Schwangerschaftsteststick auf den Badewannenrand und ließ den Kopf in die Hände sinken.
Sie war jetzt vierzig. Andere Frauen erwarteten in dem Alter begeistert ihr erstes Kind. Mutterschaft auf den nahezu letzten Drücker. Petra allerdings, die bereits mit fünfzehn schwanger geworden war und sechs Jahre später dann noch Zwillinge bekommen hatte, hatte sich gerade darauf eingestellt, mit vierzig einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Ihr ältester Sohn Jan war schon vor Jahren ausgezogen und inzwischen fast fertig mit seinem Studium. In einem Jahr würde er ausgebildeter Verfahrenstechniker sein. Petra hatte nach wie vor nur eine vage Ahnung, was genau das war. Ihre Zwillinge Lucy und Florian waren auch schon neunzehn und hatten gerade mit Ach und Krach ihr Abitur geschafft. Derzeit suchten sie eine Wohnung. Eine gemeinsame Wohnung. Sie waren nach wie vor unzertrennlich. Dann wären da nur noch Dille und sie gewesen. Ein Ehepaar. Zwei Menschen, die gemeinsam Dinge unternehmen, sich wieder annähern, eine Zweierbeziehung führen konnten – etwas, was ihnen aufgrund der frühen Elternschaft bislang nicht möglich gewesen war. Petra hatte sich darauf gefreut.
Zugegeben, Dille und sie hatten sich oft in der Wolle. Immer wieder flogen die Fetzen, Kraftausdrücke und gelegentlich auch Gegenstände mittelharter Konsistenz. Aber sie liebte ihn. Trotz allem. Und sie hatte gehofft, dass sie nach dem Auszug der Zwillinge endlich den romantischen, innigen Teil ihrer Ehe einläuten würden, der ihnen bislang versagt geblieben war. Sie hatte sich so sehr auf die Zweisamkeit gefreut. Nur Dille und sie.
Pustekuchen. Da waren jetzt Dille, sie … und der horizontale Strich.
Wie Dille wohl reagieren würde? Petra schaute auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Es würde noch dauern, bis er nach Hause käme. Seine Counterstrike -Abende endeten selten vor drei Uhr nachts. Wenn sich Petras Mann erst mal mit seinen Freunden am Computer eingeballert hatte, vergaßen die Jungs Zeit und Raum. Da waren sie wie kleine Kinder. Nicht viele Frauen würden Verständnis dafür aufbringen, wenn ihr Gatte sich einmal die Woche zu endlosen martialischen Computerspielnächten mit seinen Freunden traf. Aber Petra hatte damit kein Problem. Sie spielte selbst ganz gern Counterstrike.
Das Telefon klingelte. Petra schaute überrascht auf. Ein Klingeln nach Mitternacht versprach nichts Gutes.
»Ja?«, meldete sie sich.
»Frau Hölters?«, sagte eine Männerstimme.
»Wer spricht da?«, fragte Petra.
»Moment«, sagte die Stimme.
Der Hörer wurde offenbar weitergereicht. Dann hörte Petra Lucys Stimme.
»Mama?«, sagte sie.
»Lucy! Was ist los?!«, rief Petra aufgeregt.
Lucy zögerte kurz. Dann sagte sie: »Könntest du uns … äh … bei der Polizei abholen?«
Als Dille um kurz nach vier nach Hause kam, war er überrascht, dass im Wohnzimmer Licht brannte. Mit fragendem Gesichtsausdruck schaute er Petra, Lucy und Florian an, die gemeinsam am Tisch saßen.
»Was ist denn hier los?«, fragte er.
»Hallo, Schatz. Es gibt ein paar kleine Neuigkeiten«, sagte Petra mit ruhiger, freundlicher Stimme. Auf unbeteiligte Beobachter hätte sie zweifelsohne völlig gelassen und entspannt gewirkt. Doch Dille kannte seine Frau lange genug, um zu wissen, dass das ihr bedrohlichster Tonfall war. Wenn sie so sprach, war die Kacke ernsthaft am Dampfen.
»Schieß los«, sagte er nervös und setzte sich.
»Deine reizenden Kinder«, sie zeigte auf Lucy und Florian, »sind bei Karstadt eingebrochen.«
»Was?!«, rief Dille.
»Das war ein politischer Protest«, erklärte Florian.
»Ein Statement gegen den Konsumterror«, ergänzte Lucy.
»Wir sind mit ein paar Freunden von der Spaßguerilla…«, begann Florian auszuführen.
»Spaßguerilla?!«, rief Dille.
»Ja. Gewaltloser, phantasievoller Widerstand«, sagte Lucy. »Eine alte anarchistische Tradition. Gab’s schon in deiner Generation. Fritz Teufel. Rainer Langhans. Das
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